KANBrief 4/21

Anhang-III-Organisationen: Vertreter gesellschaftlich relevanter Interessen in der europäischen Normung

Europäische Normen tragen dazu bei, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zu verbessern und spielen in vielen Bereichen eine wichtige Rolle in der europäischen Gesetzgebung. Sie können auch weitreichende Auswirkungen auf die Gesellschaft haben, beispielsweise auf die Verbraucher, die Umwelt oder die Sicherheit der Beschäftigten. Daher ist es nach den Grundprinzipien der Normung wichtig, dass alle interessierten Kreise angemessen in den nationalen und europäischen Normungsprozess einbezogen werden und ihr Fachwissen platzieren können.

Die europäischen Normungsorganisationen (ESOs) sind privatrechtlich organisiert, gesellschaftliche Interessen sind also nicht automatisch vertreten. In der Normung gilt das Prinzip der nationalen Delegation (siehe CEN-Geschäftsordnung Teil 1, 2.4). Das heißt, die Beteiligung der Interessengruppen erfolgt über die nationalen Normungsorganisationen, deren Delegierte den Konsens aller Interessengruppen in ihrem jeweiligen Land vertreten. Doch sind diese Interessengruppen in allen mitgliedstaatlichen Normungsprozessen tatsächlich ausreichend repräsentiert? Die EU-Kommission musste 2009 zur Kenntnis nehmen, dass die Vertretung einiger wichtiger gesellschaftlichen Kräfte in vielen Mitgliedstaaten schwach ausgeprägt oder zersplittert ist (EIM-Studie „Access to standardization”, März 2009).

Aus diesem Grund beauftragte die EU mittels der 2012 in Kraft getretenen Normungsverordnung die ESOs, eine „angemessene Vertretung und wirkungsvolle Beteiligung aller einschlägigen Interessenträger“ zu fördern und zu erleichtern. Anhang III der Verordnung stellt klar, dass dafür nur auf Dauer angelegte, gemeinnützige europäische Verbände in Betracht kommen, die von nationalen Organisationen aus mindestens zwei Dritteln der Mitgliedstaaten mit der Interessenvertretung im europäischen Normungsprozess beauftragt wurden. Wer als Anhang-III-Organisation anerkannt wird, kann sich um EU-Mittel bewerben und darf sich an der Normung direkt auf europäischer Ebene beteiligen. Dies sind zum einen ANEC (Association Normalisation Européenne pour les Consommateurs) für die Verbraucherinteressen, ECOS (Environmental Coalition on Standards) für die Umweltinteressen und ETUC (European Trade Union Confederation) für die Interessen der Arbeitnehmer. Doch sind diese Gruppen tatsächlich die einzigen, deren Expertise in der Normung möglicherweise nicht ausreichend gehört wird? Die EU-Verordnung beantwortet diese Frage, indem sie auch die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in den Anhang III aufnahm. Schließlich ist auch ihre ausreichende Mitwirkung am europäischen Normungsprozess wesentlich, insbesondere für den technologischen Fortschritt der EU. Die KMU in der europäischen Normung werden durch Small Business Standards (SBS) vertreten.

Die EU-Verordnung räumt den Anhang-III-Organisationen allerdings kein Stimmrecht ein. Wie die Beteiligung konkret aussieht, bleibt den europäischen Normungsorganisationen überlassen. Praktisch bedeutet das: Die Anhang-III-Organisationen können laut Verordnung beispielsweise neue Arbeitspunkte vorschlagen, aber auch Stellungnahmen zu Normentwürfen abgeben sowie an der Überprüfung von bestehenden europäischen Normen mitarbeiten. Die verschiedenen ESOs räumen ihnen weitere, teils unterschiedliche Beteiligungsmöglichkeiten ein, u.a. Beobachter in die technischen Ausschüsse und Experten in die Arbeitsgruppen zu entsenden.

Das Thema der angemessenen Beteiligung dieser gesellschaftlichen Interessen bleibt ein Dauerbrenner – nicht zuletzt deshalb, weil die europäische Normung zunehmend politischer wird. Die großen EU-Ziele wie strategische Autonomie, Technologieführerschaft sowie digitaler und grüner Wandel benötigen eine starke Normung und einen stärkeren Einfluss der EU auf die internationale Normung. Doch was bedeutet das für die zivilgesellschaftlichen Interessen in der Normung, auch auf internationaler Ebene? Vor diesem Hintergrund wollen wir die vier genannten Organisationen in loser Reihenfolge in den nächsten KANBrief-Ausgaben näher vorstellen: Was für Möglichkeiten der Beteiligung haben sie konkret auf europäischer und internationaler Ebene? Was konnten sie bisher erreichen? Halten sie das bisherige europäische Normungssystem für ausreichend inklusiv?

Falls auch Sie Fragen zu bzw. an diese Organisationen haben, schreiben Sie uns!

Angelika Wessels
wessels@kan.de