KANBrief 2/15

Nicht ganz Europäische Normen

Europäische Normen sind in allen Ländern der EU inhaltlich gleich. Es gibt jedoch Möglichkeiten, sie national anzupassen, um auf Besonderheiten einzelner Länder hinzuweisen oder Widersprüche mit nationalen Gesetzen zu berücksichtigen. Je nach Situation können dazu verschiedene Instrumente zum Einsatz kommen (CEN/CENELEC-Geschäftsordnung Teil 2, Normungsarbeit (2022) (pdf)Teil 3, Gestaltung von Normen (2019) (pdf)).

Die EU-Binnenmarktgesetzgebung nach dem Neuen Konzept fordert ein einheitliches Sicherheitsniveau für Produkte und muss von den Mitgliedstaaten unverändert in nationales Recht überführt werden. Harmonisierte Europäische Normen bieten Herstellern ein mögliches „Kochrezept“, um die abstrakt formulierten Anforderungen der Richtlinien und Verordnungen umzusetzen. Die Normen müssen ebenfalls von allen CEN/CENELEC-Mitgliedern unverändert in das nationale Normenwerk übernommen werden. Durch diesen Mechanismus wird erreicht, dass Produkte innerhalb Europas frei gehandelt werden können.

Neben den Binnenmarktrichtlinien, die das Inverkehrbringen von Produkten regeln, gibt es jedoch noch weitere EU-Richtlinien mit einem weniger vereinheitlichenden Ansatz. So schreiben beispielsweise die Arbeitsschutzrichtlinien zwar ein gemeinsames Mindestniveau vor, die einzelnen Mitgliedsstaaten dürfen aber darüber hinausgehende Anforderungen erlassen.

A-Abweichung

In der Praxis kann es vorkommen, dass Normanforderungen mit den nationalen gesetzlichen Vorschriften einzelner Länder in Widerspruch stehen, zum Beispiel

  • wenn Normen im nicht vollständig harmonisierten Bereich wie dem betrieblichen Arbeitsschutz entstehen
  • wenn Normen, die eigentlich unter Binnenmarktrichtlinien erarbeitet wurden, zusätzlich Aspekte ansprechen, die in den nicht vollständig harmonisierten Bereich fallen (z.B. Dienstleistungsnormen, die auch Qualifikations- oder Arbeitsschutzaspekte ansprechen, für die national unterschiedliche Vorschriften gelten).

Bereits im Antrag zu einem europäischen Normprojekt können unter Umständen Konflikte mit nationalen Vorschriften deutlich werden. Im Normungsprozess selbst kann der Norminhalt in der Vorschlags-, Bearbeitungs- und Umfragestufe beeinflusst werden. Frühe Mitarbeit kann hier Schlimmeres verhindern. Wichtig ist in jedem Fall, das zuständige Technische Komitee so früh wie möglich zu informieren.

Sollten trotz aller Bemühungen Widersprüche in der Norm bestehen bleiben, kann beim Technischen Komitee eine A-Abweichung beantragt werden. Sie gilt ausschließlich bei Widersprüchen zu nationalen Gesetzen, nicht zum untergeordneten technischen Regelwerk. Die Gründe für die Abweichung müssen detailliert dargelegt werden (Checklist for Action – A-deviations (pdf)). Die A-Abweichung wird in einem informativen Anhang in allen nationalen Fassungen der Norm bekannt gegeben. Für das betroffene Land ist sie normativ. Im Vorwort sollte auf die A-Abweichung hingewiesen werden.

Weitere Instrumente

In Besonderen nationalen Bedingungen kann eine nationale Eigenschaft oder Praxis Berücksichtigung finden, die selbst innerhalb eines längeren Zeitraums nicht geändert werden kann (z.B. klimatische Bedingungen, elektrische Erdungsbedingungen). Die Bedingungen werden in einem normativen Anhang aufgeführt, der jedoch nur für die betroffenen Länder gilt und für alle anderen rein informativ ist. Besondere nationale Bedingungen gelten nicht als Abweichungen, stellen also die vollständige Harmonisierung nicht in Frage.

Nur in der jeweiligen nationalen Fassung der Norm werden folgende Elemente veröffentlicht:

Nationales Vorwort: Hier bietet sich Gelegenheit, auf nationale Vorschriften hinzuweisen, die neben der Norm anzuwenden sind, sowie auf Änderungen gegenüber Vorgängerdokumenten. In Deutschland stellt DIN sicher, dass das nationale Vorwort mit der KAN abgestimmt wird, sofern die Norm den Arbeitsschutz berührt und im Widerspruch zum Vorschriften- und Regelwerk steht (siehe Grundsatzpapier zur Rolle der Normung im betrieblichen Arbeitsschutz (pdf, nicht barrierefrei)).

Nationale Anhänge: Sie enthalten oft Informationen zur einfacheren Anwendung der Norm, z.B. Literaturhinweise auf andere Normen. Sie können auch normativer Bestandteil mit (teils umfangreichen) zusätzlichen Erläuterungen sein. Nationale Anhänge dürfen keine Festlegungen der Norm ändern.

Nationale Fußnoten: Sie verweisen an der entsprechenden Textstelle auf zu beachtende A-Abweichungen oder Besondere nationale Bedingungen oder enthalten sonstige ergänzende Hinweise. Sie dürfen keine Anforderungen enthalten.

Dr. Dirk Bartnik