KANBrief 4/24
Die ISO 1999 „Akustik – Bestimmung des lärmbedingten Hörverlusts“ aus 2013 wird aktuell überarbeitet. Die KAN hat dazu Stellung genommen, da einige der vorgeschlagenen Änderungen aus wissenschaftlicher Sicht nicht korrekt sind.
Die ISO 1999 enthält ein mathematisches Modell, mit dem zu erwartende Hörverluste für Menschen mit und ohne Lärmbelastung berechnet werden können. Für das Modell müssen zum einen der altersbedingte Hörverlust von Gruppen ohne Lärmbelastung bekannt sein und zum anderen der Hörverlust vergleichbarer Gruppen mit Lärmbelastung, die aber niemals Gehörschutz benutzt haben. Diese Werte wurden für das Modell statistisch aus verschiedenen Untersuchungen ermittelt. Bis einschließlich zur aktuell gültigen Version der ISO 1999 von 2013 bezog sich das Modell bei den verwendeten Hörverlusten für Gruppen ohne Lärmbelastung auf die ISO 7029 „Akustik; Luftleitungshörschwelle in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht otologisch normaler Personen“ von 1984. Diese Norm basiert auf veröffentlichten Daten aus mehreren Studien, die gründlich geprüft wurden. Mit Hilfe dieser Studiendaten gelang es mit der ISO 1999 vor fast 35 Jahren, den reinen Lärmeffekt auf das Gehör im Modell so zu beschreiben, dass er auch für exponierte Gruppen vorhergesagt werden kann.
Mit der aktuellen Überarbeitung der ISO 1999 wurden für den altersbedingten Hörverlust Daten aus nur zwei Untersuchungen herangezogen. Aus Sicht der KAN sind diese jedoch ungeeignet: Der für das neue Modell zu Grunde gelegte natürliche Hörverlust für Gruppen ohne Lärmbelastung wird als niedriger als bisher eingeschätzt. Dies führt dazu, dass bei den Gruppen mit Lärmbelastung nach der Berechnung im neuen Entwurf der ISO 1999 die Wirkung des Lärms auf das menschliche Gehör höher eingeschätzt wird als nach dem bisherigen Modell. Demnach würde für lärmexponierte Gruppen schon eine jahrelange Lärmbelastung mit 80 dB zu einem zusätzlichen Hörverlust führen. Andere Studien haben jedoch gezeigt, dass eine Lärmbelastung gleich oder weniger als 80 dB(A) auch nach jahrelanger Exposition zu keiner erkennbaren Veränderung der Hörschwelle führt.
Arbeitgeber müssen ab bestimmten Expositionsgrenzwerten und Auslösewerten Schutzmaßnahmen ergreifen. Bei der Ermittlung dieser Werte für die europäische Richtlinie zum Schutz der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch physikalische Einwirkungen (Lärm) (2003/10/EG) hat sich die Europäische Kommission auf die ISO 1999 von 1990 gestützt. Sollte der aktuelle Entwurf als Norm veröffentlicht und bei einer Überarbeitung der Richtlinie berücksichtigt werden, würden womöglich die Expositionsgrenzwerte und Auslösewerte deutlich abgesenkt werden. Bisher erfordert ein Tages-Lärmexpositionspegel von 85 dB Schutzmaßnahmen für Beschäftigte. Nach dem neuen Normentwurf müssten bereits bei 77 dB Schutzmaßnahmen getroffen werden – und das, obwohl es hierfür keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt. Dieser Wert kann unter Umständen schon bei der Verwendung eines Staubsaugers oder in einer Flugzeugkabine überschritten werden. Beschäftigte müssten dann, sollten keine anderen Maßnahmen möglich sein, Gehörschutz tragen.
Die Absenkung der Werte könnte somit zu Schutzmaßnahmen führen, die aus wissenschaftlicher Sicht nicht erforderlich sind – mit Folgen für mehrere Beteiligte:
Arbeitgeber müssen die Gefährdungen der Beschäftigten bei der Arbeit beurteilen und entsprechende Maßnahmen ableiten. Dabei gilt das Prinzip, dass Maßnahmen angemessen, erforderlich und verhältnismäßig sein müssen. Mit den Änderungen in der Norm würden sie diesen Grundsätzen nicht mehr entsprechen.
Die KAN hat im Sommer 2024 bei DIN eine Stellungnahme eingereicht, in der sie den aktuellen Entwurf der ISO 1999 ablehnt. Im September 2024 hat sich der nationale Spiegelausschuss gegen den aktuellen Entwurf der Norm positioniert und DIN bei ISO entsprechend abgestimmt. Ergebnis dieser internationalen Abstimmung war, dass der vorgelegte Entwurf abgelehnt wurde. Die Diskussionen auf internationale Ebene laufen jedoch noch und es ist offen, ob und in welcher Form ein überarbeiteter Entwurf veröffentlicht wird.
Dr. Anna Dammann
dammann@kan.de