KANBrief 4/23
Höchstwahrscheinlich bedeutet es einen höheren Orientierungs- und Erfüllungsaufwand, und es könnte zu konkurrierenden technischen Anforderungen kommen. Für die Erarbeitung von harmonisierten europäischen Normen gibt es einen klaren Rahmen, der unter anderem durch die europäische Normungsverordnung festgelegt ist. Darin erhalten die europäischen Normungsorganisationen Rechte und Pflichten gleichermaßen. Zum Beispiel müssen sie für transparente Verfahren sorgen und eine möglichst breite Einbindung von Stakeholdern sicherstellen – insbesondere auch aus kleinen und mittleren Unternehmen, von Verbrauchern und Umweltschutzorganisationen. Für Common Specifications gibt es weder festgelegte Anforderungen an den Erarbeitungsprozess noch an Transparenz und die breite Beteiligung der interessierten Kreise. Auch müssen die Inhalte nicht zwingend mit dem bestehenden europäischen Normenwerk kongruent sein. Ich bin daher der Meinung, dass Common Specifications immer nur eine Notlösung sein können und die Erarbeitung harmonisierter europäischer Normen stets Vorrang haben sollte.
Die Forderung wurde in einem gerichtlichen Verfahren erhoben, welches derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) geführt wird. Abzuwarten bleibt, ob beziehungsweise in welchem Umfang der EuGH in seinem Urteil der Forderung der Generalanwältin folgt. Gegebenenfalls kann dies erhebliche negative Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft und das System der europäischen Normung haben. Die Frage wäre nicht nur, ob und wie innerhalb dieses Systems entwickelte harmonisierte europäische Normen in Zukunft kostenfrei veröffentlicht werden müssen. Vor allem kann das Urteil zu einer Entkopplung der europäischen Normung von der internationalen Normung führen. Denn wenn der urheberrechtliche Schutz entfallen sollte, ist zu erwarten, dass ISO oder IEC die Inhalte ihrer internationalen Normen nicht mehr wie bislang der europäischen Normung zur Verfügung stellen. Mit einer solchen Entkopplung hätten wir unser heute gut funktionierendes Normungssystem außer Kraft gesetzt, was dann im Endeffekt zur Schaffung von Handelshemmnissen führen könnte.
Das Zusammenspiel von EU-Gesetzgebung und Normung ist aus meiner Sicht ein Garant dafür, dass die Regulierung technischer Details praxistauglich gestaltet und fortlaufend an den Stand der Technik angepasst wird. Diese Leistung erbringt seit über 30 Jahren die privatwirtschaftlich organisierte Normung, die den Unternehmen damit einen einfachen Zugang zum Binnenmarkt ermöglicht. Der Gesetzgeber dagegen beschränkt sich auf die Regulierung der wesentlichen Anforderungen. Die Forderung der Generalanwältin könnte man letztendlich also auch als das Ende dieser erfolgreichen Public-Private-Partnership verstehen.
Diese Herausforderung ist für uns genauso groß wie für unsere Gesellschaft und Wirtschaft insgesamt. Wir merken das heute bereits bei der Gewinnung eigener Mitarbeitender bei uns im DIN e.V.., aber auch bei den Experten und Expertinnen, die letztendlich die Inhalte der Normen erarbeiten. Wir begegnen dieser Herausforderung auf vier Ebenen: