KANBrief 3/25

Wenn Normen ihr Gedächtnis verlieren

Ist die Arbeitsweise in der Normung – ob international, europäisch oder national – so transparent, effizient und nachhaltig, wie sie idealerweise sein sollte? Aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen in zwei Jahrzehnten aktiver Normung sieht Peter Paszkiewicz, Leiter der Prüf- und Zertifizierungsstelle im Institut für Arbeitsschutz der DGUV (IFA), die dringende Notwendigkeit, Entscheidungen im Normungsprozess langfristig nachvollziehbar zu machen.

Aufwändige und teure Forschung, so bekomme ich es in der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) hautnah mit, hat auch zum Ziel, für die sichere Gestaltung von Produkten Anforderungen in Normen zu setzen sowie die entsprechenden Prüfverfahren zu entwickeln. Einerseits sind es Unfalluntersuchungen, die zu Produktanforderungen führen, andererseits werden durch pränormative Forschung teilweise sehr komplexe Prüfverfahren entwickelt. Am Ende können sich die weitreichenden Vorarbeiten in nur wenigen Sätzen Normtext niederschlagen, die aber wissenschaftlich fundiert sind.

Problematisch ist jedoch, dass es üblicherweise weder innerhalb der Normungsorganisationen und deren Gremien noch öffentlich verfügbar ein Logbuch oder eine systematische Historie gibt, anhand derer die Normanforderungen und die Gestaltung von Prüfverfahren jederzeit leicht nachvollzogen werden können. So kann es passieren, dass nach Ablösung der erfahrenen Fachleute an der Normungsfront, von denen ein großer Teil demnächst in den Ruhestand geht, kaum jemand mehr den Hintergrund der Festlegungen nachvollziehen kann. Im Handumdrehen könnte die nachfolgende Generation über Jahrzehnte hinweg existierende evidenzbasierte Entscheidungen und Festlegungen bedenkenlos vom Tisch fegen.

Was passiert, wenn die Historie fehlt?

Ein gutes Beispiel dafür ist die Revision der ISO 1999 „Akustik – Bestimmung des lärmbedingten Hörverlusts“ aus 2013, die, wie auch ihre Vorgängerversionen, auf soliden wissenschaftlichen Untersuchungen der 1970er Jahre beruht. Bei der Überarbeitung hat der Normenausschuss auf wenig fundierten neueren Erkenntnissen aufsetzen wollen, die an Lärmarbeitsplätzen zu erheblichen Problemen mit überzogenen Arbeitsschutzmaßnahmen hätten führen können. Erst die Intervention eines der letzten schon seinerzeit für die 1990er Fassung aktiven Experten sowie der Einspruch der KAN 2024 (s. KANBrief 4/24) haben die aktuellen Revisionsbestrebungen stoppen können. Nun bleibt die Norm in diesem Punkt unverändert. Vielleicht hätte eine saubere und lückenlos dokumentierte Begründung der Anforderungen diese Intervention gar nicht erst erforderlich gemacht?

Ein anderes Beispiel ist ein intensiver Austausch europäischer Normungsbeteiligter im Atemschutz Anfang der 2000er Jahre, nachdem bei Rundversuchen zu partikelfiltrierenden Halbmasken unerwartet Abweichungen aufgetreten waren. Es zeigte sich, dass durch neue Prüfanforderungen Teile der Prüfapparatur einen signifikanten, aber bisher unbekannten Einfluss auf das Messergebnis bekommen hatten. Die Anforderungen an die Apparatur wurden daraufhin erfolgreich angepasst. Werden nun diese wichtigen Erkenntnisse, die durch viele Treffen und umfangreiche Laboruntersuchungen europäischer Expertinnen und Experten sehr teuer erkauft worden sind, die nächsten Revisionen überleben? Wäre es nicht auch hier sinnvoll, diese Untersuchungen mit der Norm sauber zu dokumentieren und zu bewahren?

Wichtig ist es, auch die Öffentlichkeit an Überlegungen und Hintergründen zur Festsetzung normativer Anforderungen teilhaben zu lassen, anstatt nur den aktiv in Gremien mitarbeitenden Expertinnen und Experten Zugang zu begleitenden Dokumenten zu ermöglichen. Dies zeigt etwa der 2023 von deutscher Seite vorgetragene formelle Einwand gegen die EN 149 für partikelfiltrierende Halbmasken, durch die Pandemie bekannt als „FFP2-Masken“, bei dem einzelne Gestaltungs- und Prüfanforderungen beanstandet wurden. Vielleicht wäre durch eine öffentlich zugängliche und transparente Darstellung der Hintergründe der Normung, die auch eine Beteiligung nicht in die Gremienarbeit eingebundener engagierter Fachleute ermöglicht hätte, der formelle Einwand gar nicht erfolgt?

Es ist Zeit, aus den zahlreichen Beispielen zu lernen. Die wissenschaftlichen und technischen Hintergründe für alle wichtigen Anforderungen und Prüfverfahren in Normen müssen in den wesentlichen Punkten, nämlich dort, wo es um die Festlegung sicherheitsrelevanter Parameter geht, über Generationen von Normungsfachleuten nachvollziehbar sein und konsequent dokumentiert werden – und zwar auch mit der Möglichkeit der öffentlichen Einsichtnahme. Als Vorbild könnte die Praxis der MAK-Kommission dienen, die bei der Grenzwertsetzung für jeden Gefahrstoff umfangreiche Begründungsdokumente erstellt. Die bisherige Arbeitsweise in der Normung ist weder transparent noch nachhaltig. Normung hat einen wissenschaftlichen Anspruch, der sich in allen Schritten und Ebenen der Normenarbeit widerspiegeln muss.

Peter Paszkiewicz
peter.paszkiewicz@dguv.de