KANBrief 1/19

Binnenmarkt und Normung – Weiterhin ein Erfolgs­modell?

Der damals "Neue Ansatz" prägt seit den 80er Jahren den Binnenmarkt: Viele der für ihn relevanten Europäischen Rechtsvorschriften schreiben nur grundlegende Anforderungen vor. Sie überlassen es den – bis vor kurzem in ihrer Arbeitsweise praktisch freien – privatrechtlichen Normungsorganisationen, sie durch schneller aktualisierbare, aber nicht bindende harmonisierte Normen zu konkretisieren. Doch in den letzten Jahren rückte die EU von diesem Grundprinzip ab.

Seit 2012 greift die EU durch die Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 in die Normung ein: Die Verordnung regelt die Zusammenarbeit zwischen europäischen Normungsorganisationen, nationalen Normungsorganisationen, den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission. Der europäische Gesetzgeber wollte damit unter anderem die Beteiligung bestimmter interessierter Kreise an der Normung erleichtern und die Eignung harmonisierter Normen verbessern, die Vermutungswirkung auszulösen. Ein einschneidender Teil dieser Normungsverordnung ist Artikel 10(5): Er verpflichtet die Kommission, gemeinsam mit den europäischen Normungsorganisationen zu prüfen, ob harmonisierte Normen mit dem zugrundeliegenden Normungsauftrag übereinstimmen.

Damit hängt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 27.10.2016 (Rechtssache C-613/14 James Elliott Construction/Irish Asphalt) eng zusammen. Er entschied unter anderem wegen dieses Artikels, dass er nicht nur dafür zuständig ist, Rechtstexte auszulegen, sondern auch harmonisierte Normen unter der früheren Bauprodukte-Richtlinie 89/106/EWG. Seither sieht sich die EU-Kommission – in noch stärkerem Maße als durch Artikel 10(5) der Normungsverordnung eingefordert – verpflichtet, nicht nur für Bauprodukte, sondern für alle nach dem Neuen Ansatz gestalteten Sektoren, die technisch-sachliche Eignung harmonisierter Normen und ihre Übereinstimmung mit den Normungsaufträgen mitzuverantworten. Infolgedessen veröffentlicht die Kommission, falls ihr Bedenken vorgetragen werden, die Fundstelle von Normen ohne eingehende Prüfung nicht im EU-Amtsblatt und formuliert Normungsaufträge sehr strikt, praktisch ohne zeitlichen und inhaltlichen Handlungsspielraum.

Auch das ursprüngliche System der Consultants, deren Auftrag es eigentlich ist, die Eignungsprüfung durchzuführen, wurde geändert. Früher verwaltete das CEN/CENELEC-Management-Center (CCMC) sie als New-Approach-Consultants und erhielt dafür Zuwendungen der EU-Kommission. Das heißt, die Eignungsprüfung für harmonisierte Normen wurde zwar öffentlich gefördert, gehörte jedoch zum Qualitätsmanagement der privaten Normungsorganisationen. Seit März 2018 verwaltet die Kommission die nun HAS-Consultants (Harmonised Standards) genannten Experten selbst, und hat dafür die Agentur Ernst & Young als externen Dienstleister beauftragt.

Die beschriebenen Entwicklungen bedeuten, dass die ursprünglich im New Approach angelegte relativ strikte Trennung zwischen den gesetzlich verbindlichen Binnenmarktvorschriften und den privatwirtschaftlich erarbeiteten, nicht verbindlichen harmonisierten Normen aufgeweicht wurde.

Entwicklung mit Vor- und Nachteilen

Das System ist jetzt zweifellos nicht mehr so flexibel. So können Projekte, deren Anwendungsbereich nicht ausdrücklich von einem Normungsauftrag abgedeckt ist, nur noch mit erheblichem Aufwand ergänzend ins Normungsprogramm aufgenommen werden. Dies könnte auch reine Aktualisierungen oder sogar das Aufteilen einer beauftragten Norm in mehrere Normteile zur besseren Lesbarkeit betreffen (Solche Befürchtungen kamen insbesondere wegen des Entwurfs für einen Normungsauftrag zur Verordnung (EU) 2016/425 über persönliche Schutzausrüstungen auf). Zudem droht die Harmonisierung von Normungsprojekten zu scheitern, wenn Fristen in Normungsaufträgen zu restriktiv festgelegt sind.

Andererseits werden nun die im Laufe der Jahrzehnte weiter entwickelten Ansprüche an harmonisierte Normen formal besser berücksichtigt:

  • In den Anhängen Z muss der Zusammenhang zwischen rechtlichen und normativen Anforderungen klarer und anwenderfreundlicher dargestellt werden.
  • Begründete Bedenken seitens der Mitgliedstaaten oder des EU-Parlaments führen nicht erst nach jahrelangen Diskussionen zu Konsequenzen.
  • Finanziell und organisatorisch schwächere Kreise wie Gewerkschaften, KMU oder Umwelt- und Verbraucherschutzverbände können ihre Positionen effektiver einbringen.

Die Zukunft wird zeigen, ob sich diese Entwicklungen bewähren oder die Bedenken mancher Wirtschaftsakteure bewahrheiten, die den Binnenmarkt in Gefahr sehen oder gar ihr Engagement in der Normung infrage stellen.

Corrado Mattiuzzo
mattiuzzo@kan.de