KANBrief 2/09

Grenzen und Spielräume für betriebliche Arbeitsschutznormung

Der betriebliche Arbeitsschutz soll vom Grundsatz her nicht Gegenstand der Normung sein. Dies besagt der Gemeinsame Deutsche Standpunkt zur Normung im Bereich des betrieblichen Arbeitsschutzes (GDS: Gemeinsamer Standpunkt des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, der obersten Arbeitsschutzbehörden der Länder, der Träger der gesetzlichen Unfallversicherungen, der Sozialpartner sowie des DIN Deutsches Institut für Normung e.V. zur Normung im Bereich der auf Artikel 118a des EWG-Vertrages gestützten Richtlinien (heute Artikel 137 EGVertrag); Bundesarbeitsblatt 1/1993, S. 37-39), der auf grundsätzlichen Festlegungen der europäischen Sozialpolitik (Artikel 137 EG-Vertrag) beruht. Da der GDS jedoch immer wieder unterschiedlich interpretiert wurde, hat die KAN eine Erläuterung erarbeitet, die die vorhandenen Grenzen und Spielräume für die Normung aufzeigen soll.

Abweichend vom allgemeinen Grundsatz sind zum einen Normen möglich, die zum Beispiel der Verständigung im betrieblichen Alltag (Symbole, Definitionen) oder der Vergleichbarkeit von Messergebnissen durch einheitliche Messmethoden (zum Beispiel zur Exposition durch Lärm oder Vibrationen am Arbeitsplatz) dienen.

Zum anderen ist Normung in Einzelfällen auch in Bereichen vertretbar, für die der GDS Normungsaktivitäten eigentlich ausschließt: Wenn entgegen dem deutschen Votum ein Normprojekt in Gang gesetzt wird oder aber die KAN einem Thema ausdrücklich zustimmt, können Arbeitsschutzexperten unter Beteiligung der KAN an der Normerarbeitung mitwirken. Durch die Beteiligung an der Normung soll in beiden Fällen sichergestellt werden, dass das nationale Arbeitsschutzniveau aufrechterhalten wird.

Das Interpretationspapier wurde im März 2009 von der KAN verabschiedet und ist nachstehend vollständig abgedruckt.

Unterstützung beim Umgang mit Arbeitsschutzaspekten in der Normung im Bereich des Artikels 137 EG-Vertrag

Der Arbeitsschutz in der Europäischen Union wird in zwei Rechtsbereichen geregelt. Für Produkte gelten im gesamten EG-Binnenmarkt gleiche Anforderungen auf der Grundlage von Richtlinien nach Art. 95 EG-Vertrag (ehemals Art. 100), die von den Herstellern zu beachten sind. Für die Verwendung dieser Produkte jedoch, zum Beispiel ihren Einsatz als Arbeitsmittel, haben gemäß Art. 137 EG-Vertrag (ehemals Art. 118a) die nationalen Bestimmungen der Mitgliedstaaten Vorrang.

Der betriebliche Arbeitsschutz gehört zu den Bereichen, in denen derzeit keine vollständige Harmonisierung vorgesehen ist. Es steht jedem Mitgliedstaat frei, über die in europäischen Richtlinien nach Art. 137 EG-Vertrag formulierten Mindestanforderungen hinausgehende Vorschriften zu erlassen.

Der europäische Gesetzgeber weist bei den Richtlinien nach Artikel 137 – anders als bei den Richtlinien nach Artikel 95 – in der Regel nicht der Normung die Aufgabe zu, die Mindestanforderungen zum Arbeitsschutz zu konkretisieren. Verfahren und Regelungen wie die Mandatierung von Normungsprojekten, die Prüfung von Normentwürfen durch Consultants, die Listung von Normen im Amtsblatt der EU sowie das Schutzklauselverfahren sind nicht vorgesehen.

Ist Normung im Bereich von Art. 137 EG-Vertrag dennoch möglich?

In Deutschland wurde 1993 der „Gemeinsame Deutsche Standpunkt“ (GDS) verabschiedet und bis zum heutigen Zeitpunkt unverändert belassen. Vom Grundsatz her besagt er, dass von Deutschland aus keine Normung im Bereich der auf Art. 137 EG-Vertrag gestützten Richtlinien zu initiieren ist. Dennoch schließt der GDS abweichend von diesem Grundsatz Normung zum betrieblichen Arbeitsschutz nicht in jedem Fall aus.

Gleichwohl wurden die Möglichkeiten, betrieblichen Arbeitsschutz zu normen, in der Vergangenheit unterschiedlich interpretiert. Daher sollen die folgenden Hinweise ehren- und hauptamtliche Mitarbeiter in der Normung dabei unterstützen, die Spielräume für betriebliche Arbeitsschutz-Normung zu nutzen.

Welche Kreise tragen die Position zur Normung im Bereich des Art. 137 EG-Vertrag?

Folgende am Arbeitsschutz interessierte Kreise haben 1993 den GDS vereinbart: der Staat (Bund und Länder), die Arbeitgeber, die Arbeitnehmer, die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sowie das DIN Deutsches Institut für Normung e.V. Dieselben Kreise haben sich 1994 zur Kommission Arbeitsschutz und Normung (KAN, www.kan.de) zusammengeschlossen. Damit repräsentiert die KAN die im GDS genannten Kreise des Arbeitsschutzes.

Seit Verabschiedung des GDS hat sich die Arbeitsebene für eine große Anzahl der für den Arbeitsschutz relevanten Normungsprojekte von der europäischen auf die internationale Ebene verlagert. Die Ziele des deutschen Arbeitsschutzes sollen auch unter diesen und weiteren geänderten Rahmenbedingungen effektiv umgesetzt werden können. Daher diskutiert die KAN derzeit, die Vorgehensweise zur Normung im Bereich des Art. 137 EG-Vertrag weiterzuentwickeln.

In welchen Bereichen ist die Normung betrieblicher Arbeitsschutzaspekte möglich und sinnvoll?

  1. Normen können den betrieblichen Arbeitsschutz unterstützen, wenn es zum Beispiel um die Vergleichbarkeit von Messergebnissen geht, um Begriffe und Definitionen oder auch um Beschaffenheitsanforderungen an Arbeitsmittel, den Arbeitsplatz oder die Arbeitsumgebung (vergleiche Abschnitt IV des GDS).
  2. Auch in Bereichen, für die der GDS auf keinen Fall Normungsaktivitäten vorsieht, können deutsche Experten an europäischen und internationalen Normungsprojekten zum betrieblichen Arbeitsschutz mitarbeiten,
    • wenn die in der KAN vertretenen Kreise der Normung zu einem bestimmten Thema zustimmen. Zitat GDS: „Erforderliche Ausnahmen von diesem Grundsatz bedürfen in jedem Fall der vorherigen Einzelprüfung und der Abstimmung auch mit den in Abschnitt I genannten Kreisen. Diese sollte im Konsens der beteiligten Kreise geschehen.“
    • oder wenn diese trotz ablehnenden deutschen Votums von Seiten anderer Länder in Gang gesetzt werden. Zitat GDS: „An solchen Normungsvorhaben, die entgegen dem deutschen Votum in Gang gesetzt worden sind, ist unter Beteiligung der in Abschnitt I genannten Stellen in der Weise mitzuwirken, dass das festzulegende Sicherheitsniveau möglichst das nationale Niveau nicht unterschreitet.“

Dem Wortlaut nach beschränkt sich der GDS auf die Initiierung von Normen. Sinngemäß wurde er aber bereits in der Vergangenheit auf bestehende Normen, zum Beispiel anlässlich ihrer Revision, und laufende Normungsprojekte angewendet. Auch weiterhin sollte er in dieser Weise ausgelegt werden.

Gilt diese Position auch für internationale Normungsprojekte?

Direkt erwähnt der GDS die internationale Normung nicht. Gleichwohl sind die hierin für die europäische Normung entwickelten Grundsätze sinngemäß auf die internationale Normung übertragbar.

  • Das gilt insbesondere dann, wenn eine parallele Abstimmung nach dem Wiener oder Dresdener Abkommen oder eine unveränderte Übernahme in das europäische Normenwerk nach Fertigstellung vorgesehen ist.
  • Aber auch bei internationalen Normungsprojekten, deren Wirkung auf das europäische Normungs- oder Rechtssystem nicht von Anfang an klar ist, sollte aus Gründen der Klarheit und Vereinheitlichung mit Aspekten des betrieblichen Arbeitsschutzes im Sinne des GDS verfahren werden.

Zumindest sollte für die internationale Ebene eine Unterscheidung in Produktanforderungen nach Artikel 95 EG-Vertrag und betriebliche Arbeitsschutzanforderungen nach Artikel 137 EG-Vertrag, zum Beispiel durch separate Normenteile, angestrebt werden. Die internationalen Normungsorganisationen ISO und IEC stützen diese Position zum Beispiel in den ISO/IEC-Direktiven. Sie fordern ausdrücklich dazu auf, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, damit ihre Normen regional und national unverändert übernommen werden können. Solche modular abgefassten Normen, wie sie auch von der Europäischen Kommission gefordert werden, erleichtern einerseits die Übernahme internationaler Produktnormen auf die europäische Ebene. Sie lassen andererseits den Spielraum, Normen zum betrieblichen Arbeitsschutz gegebenfalls nicht zu übernehmen, wenn diese nicht mit den europäischen Anforderungen kompatibel sind.