KANBrief 4/22

Delegierte Rechtsakte als Instrument europäischer Gesetzgebung

Um europäische Gesetzgebungsakte an wissenschaftliche und technische Fortschritte anzupassen, gibt es das Instrument des delegierten Rechtsakts. Was verbirgt sich dahinter und welchen Einfluss könnte es auf die Normung haben?

Das Recht der Europäischen Union (EU) lässt sich in das Primär- und Sekundärrecht unterteilen. Das Primärrecht umfasst die Verträge der EU, die Charta der Grundrechte sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Europäischen Gerichtshofs. Das Sekundärrecht umfasst alle vom Europäischen Parlament und Rat angenommene Rechtsakte, mittels denen die EU ihre Befugnisse ausübt. Darüber hinaus definiert der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) eine Hierarchie innerhalb des Sekundärrechts: Gesetzgebungsakte, delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte.

Gesetzgebungsakte sind Rechtsakte, die im ordentlichen oder besonderen Gesetzgebungsverfahren angenommen werden (Art. 289 AEUV). Dazu zählen etwa Richtlinien und Verordnungen. Um diese nach der Verabschiedung weiter konkretisieren zu können, wurden mit dem Vertrag von Lissabon 2009 delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte eingeführt.

Delegierte Rechtsakte werden von der Europäischen Kommission erlassen und haben keinen Gesetzescharakter. Sie dienen der Änderung oder Ergänzung nicht wesentlicher Vorschriften. Genutzt werden sie üblicherweise, um die Gesetzgebung an technische und wissenschaftliche Fortschritte anzupassen. Festgelegt ist dieses Instrument in Art. 290 AEUV. In Gesetzgebungsakten kann der Kommission die dafür erforderliche Befugnis übertragen werden, wobei das Europäische Parlament und der Rat die Befugnisübertragung widerrufen können. Weiterhin gelten folgende Bedingungen:

  • Im Gesetzgebungsakt müssen die Ziele, der Inhalt, der Geltungsbereich sowie die Dauer (meist 5 Jahre) der Befugnisübertragung festgelegt sein.
  • Delegierte Rechtsakte dürfen die wesentlichen Vorschriften des Basisrechtsaktes nicht ändern. Eine Befugnisübertragung hierfür ist ausgeschlossen.
  • Delegierte Rechtsakte dürfen nur allgemeine Gültigkeit haben, d.h. sie dürfen nicht auf Einzelsituationen eingehen.

Bevor die Kommission delegierte Rechtsakte erlässt, werden Expertengruppen konsultiert, in denen alle Mitgliedstaaten vertreten sind. Nachdem die Kommission einen delegierten Rechtsakt erlassen hat, haben das Parlament und der Rat zwei Monate Zeit, um den delegierten Rechtsakt zu überprüfen. Nur wenn keine Einwände erhoben werden, kann der delegierte Rechtsakt in Kraft treten.

Im Gegensatz dazu dienen Durchführungsrechtsakte gemäß Art. 291 AEUV dazu, einheitliche Regelungen für die Umsetzung von Gesetzgebungsakten festzulegen. Grundsätzlich sind für diese Umsetzung die Mitgliedstaaten zuständig. In Bereichen, in denen einheitliche Bedingungen für die Durchführung verbindlicher Gesetzgebungsakte erforderlich sind (z. B. Binnenmarkt, Gesundheit), wird der Kommission – oder in begründeten Sonderfällen dem Rat – das Recht übertragen, Durchführungsrechtsakte zu erlassen, die die Umsetzung harmonisieren. Bei deren Erstellung wird eine Sachverständigengruppe konsultiert, die sich aus Vertreterinnen und Vertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzt (Komitologieverfahren).

Beispiele aus der Praxis

Ein Blick in das seit Dezember 2017 existierende interinstitutionelle Register der delegierten Rechtsakte zeigt, dass deren Nutzung längst keine Ausnahme mehr ist. Im Rahmen der Medizinprodukteverordnung ist das Instrument erstmals deutlich in Erscheinung getreten. Um den Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Anwendenden sowie andere Aspekte der öffentlichen Gesundheit zu gewährleisten, ist die Kommission beispielsweise befugt, per delegiertem Rechtsakt Änderungen im Anhang IV der Verordnung vorzunehmen, also die Mindestangaben für die EU-Konformitätserklärung zu ändern.

Das Beispiel der Verordnung über persönliche Schutzausrüstung (PSA) zeigt, dass delegierte Rechtsakte es ermöglichen, schneller und flexibler auf Neuerungen zu reagieren, da für Änderungen nicht wesentlicher Aspekte kein langwieriger Gesetzgebungsprozess von Nöten ist. In der PSA-Verordnung können mittels delegierter Rechtsakte die im Anhang I festgelegten Kategorien der Gefährdungen, vor denen PSA die Nutzer schützen sollen, geändert und Gefährdungen neu eingestuft werden. Zuvor hätte dafür die PSA-Richtlinie mittels eines Gesetzgebungsverfahrens geändert werden müssen. Dies führte dazu, dass Anhang I über 20 Jahre nicht aktualisiert wurde.

Auch bei dem Verordnungsvorschlag zur Neufassung der Maschinenrichtlinie vereinfachen die vorgesehenen delegierten Rechtsakte eine Konkretisierung. Hier soll das Instrument für die Anpassung der in Anhang I enthaltenen Liste von Hochrisiko-Maschinenprodukten sowie der in Anhang II festgelegten Liste der Sicherheitskomponenten eingesetzt werden.

Deutlich umfassender sollen delegierte Rechtsakte in der aktuell diskutierten Neufassung der Bauprodukteverordnung eingesetzt werden, unter anderem im Bereich der Produktsicherheit. Die Kommission erhält nach Art. 4 Abs. 3 des Verordnungsvorschlags die Befugnis, delegierte Rechtsakte mit wesentlichen Merkmalen und Bewertungsmethoden für bestimmte Produktfamilien und -kategorien zu erlassen. Sie kann somit die Verordnung untergesetzlich mit technischen Anforderungen unterfüttern. Das ist aus Sicht der Kommission nötig, wenn es bei der Erarbeitung von harmonisierten Normen zu Verzögerungen oder Mängeln kommt, oder wenn gar keine Normen vorliegen. Für den Arbeitsschutz ist dies problematisch, da die Produktsicherheitsanforderungen damit erst über einen zusätzlichen Schritt in Normen konkretisiert werden. Sollte die Kommission keine delegierten Rechtsakte zur Produktsicherheit erlassen, laufen die entsprechenden Anforderungen der Verordnung ins Leere.

Es bleibt abzuwarten, in welchem Umfang die Kommission ihre eingeräumten Befugnisse zum Erlass delegierter Rechtsakte tatsächlich nutzen wird. Zweifelsohne sollte die Normungswelt auf dieses Instrument ein Auge haben, insbesondere wenn es darum geht, mittels delegierter Rechtsakte technische Aspekte festzulegen. Gleichzeitig bietet dieses Instrument jedoch die Chance, schneller und flexibler Änderungen vorzunehmen und dem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt Rechnung zu tragen.

Freeric Meier
meier@kan.de

Katharina Schulte
schulte@kan.de