KANBrief 3/21

Brexit – Auswirkungen auf Normung und Gesetzgebung

Die im Artikel dargestellte persönliche Sicht des Autors beruht auf Gesprächen mit wichtigen Akteuren und seiner Erfahrung als ehemaliger Leiter der britischen HSE Safety Unit (Marktüberwachung von Arbeitsmitteln, Produktsicherheitspolitik). Philip Papard war zudem Vorsitzender verschiedener EU-Gremien, etwa des ICSMS-Systems, der ADCO-Gruppe für Maschinen (EU-Marktüberwachungsbehörden) und der MACHEX-Gruppe (Inspektionspolitik für die Verwendung von Arbeitsmitteln) und Mitglied des Redaktionsteams für den Leitfaden der EU-Kommission zur Maschinenrichtlinie.

Das Vereinigte Königreich hat mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft/EU ein durchaus schwieriges Verhältnis durchlebt. Die Vorbehalte beruhen zum Teil auf der nachklingenden Erinnerung an das britische Empire, in dem die Engländer große Teile der Welt beherrschten und diese Position nutzten, um ein (für Großbritannien) sehr lohnendes Handelssystem aufzubauen. Das Empire gibt es nicht mehr, aber die Erinnerungen leben in der älteren Generation noch fort. Ich weiß noch, wie ich in den 1950er Jahren mit meiner Großmutter zum örtlichen “Home and Colonial Store” gegangen bin, um Lebensmittel aus dem gesamten Empire einzukaufen. Wenn man dann noch bedenkt, dass seit 1066 keine fremden Truppen mehr auf britischen Boden vorgedrungen sind, versteht man, warum einige Bürger des Vereinigten Königreichs nicht so sehr an europäischer Zusammenarbeit interessiert sind wie diejenigen, die auf dem europäischen Festland Faschismus, Tod und Zerstörung erlitten haben. Stattdessen orientieren sie sich hin zu Ländern des früheren Empires, in denen Englisch die Hauptsprache ist – die USA, Australien, Neuseeland, Kanada und Südafrika.

Warum gab es den Brexit?

Der Brexit wurde während des Referendums als Rückkehr zur Souveränität dargestellt, ohne dass jedoch erläutert wurde, was dies genau bedeutet. Präsentiert bekamen wir Bilder von Millionen türkischer Einwanderer, die das Vereinigte Königreich überschwemmen, Geschichten darüber, dass die EU uns die englische Teetradition verbieten will und das Versprechen, dass wir genauso wie vor dem Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit ganz Europa und dem Rest der Welt problemlos Handel treiben könnten. Es war die Rede vom norwegischen oder Schweizer Modell, aber es gab wenig Details dazu, was ein Brexit wirklich bedeutet. Es wurde kaum darüber gesprochen, wie vorteilhaft der Binnenmarkt für die britische Industrie war und welchen Einfluss das Vereinigte Königreich hatte, weil es bei der Erarbeitung von Gesetzen und harmonisierten Standards mit am Tisch saß – dieses fachliche Niveau erreichte die Debatte gar nicht erst.

Der harte Brexit

Wir bekamen also den Brexit, wussten aber nicht, was auf uns zukommt. Die britische Öffentlichkeit beginnt erst jetzt, die Folgen des harten Brexits zu verstehen. Bis zum vollen Verständnis aller Auswirkungen ist es noch ein langer Weg, zumal die Covid-19-Pandemie viele Effekte verschleiert.

Vor dem Brexit hatte das Vereinigte Königreich großen Einfluss sowohl bei der Entwicklung und Fortschreibung der EU-Gesetzgebung für das Inverkehrbringen von Produkten als auch bei der Erarbeitung der zugehörigen harmonisierten Normen. Das Vereinigte Königreich war maßgeblich an der Entwicklung und Einführung des ICSMS-Systems beteiligt, das den Austausch von Informationen über geprüfte Produkte zwischen allen Marktüberwachungsbehörden unterstützt und hilft, unnötige Doppelarbeit zu vermeiden. Nun haben wir keinen Zugang mehr zu diesem System und arbeiten nur noch eingeschränkt mit den Marktüberwachungsbehörden in der EU zusammen. Auch bei der Arbeitsschutz-Gesetzgebung hat das Vereinigte Königreich eine zentrale Rolle gespielt. So hat es etwa die MACHEX-Gruppe der EU-Generaldirektion Beschäftigung ins Leben gerufen und geleitet, die Aufsichtspersonen zu Fragen der Verwendung von Arbeitsmitteln aller Art zusammenbrachte. Auch zu dieser Gruppe hat das Vereinigte Königreich keinen Zugang mehr.

Dieser harte Brexit bedeutet, dass der direkte Einfluss des Vereinigten Königreichs auf den EU-Besitzstand verloren gegangen ist und die britische Industrie und ihre Beschäftigten Regeln nur noch empfangen statt sie mitzugestalten. Das Vereinigte Königreich kann zwar von einigen Anforderungen und Standards abweichen. Um ihre Produkte auf unserem größten Markt vertreiben zu können, müssen die Hersteller jedoch die EU-Bestimmungen und Normen einhalten. Dies könnte dazu führen, dass es künftig zwei Arten von Produkten gibt, solche mit CE-Kennzeichnung und andere lediglich mit CA-Kennzeichnung (das CA Zeichen zeigt die Konformität von Produkten mit den in Großbritannien geltenden Anforderungen an), die nur für den britischen Markt bestimmt sind – keine wirklich effiziente oder kostengünstige Lösung.

Für die CE-Kennzeichnung des Produkts muss ein Unternehmen möglicherweise eine benannte Stelle beauftragen. Es gibt jedoch keine einzige mehr, die in Großbritannien ansässig ist. Unternehmen, die bisher benannte Stellen in Großbritannien beauftragt haben, können möglicherweise weiterhin mit diesen zusammenarbeiten, da viele ihren Hauptsitz in EU-Mitgliedsstaaten wie Irland oder die Niederlande verlegt haben, wo sie den Regelungen, der Aufsicht und dem Zulassungssystem des EU-Landes unterworfen sind. Zudem müssen Hersteller einen Bevollmächtigten mit Sitz in der EU benennen, um den Marktüberwachungsbehörden technische Unterlagen gemäß der Maschinenrichtlinie und anderer Richtlinien bereitstellen zu können. Dublin und Amsterdam scheinen hierfür die bevorzugten Standorte zu sein.

Zusammenarbeit in der Normung geht weiter

Harmonisierte Normen sind für den Neuen Ansatz von zentraler Bedeutung und unterstützen die Industrie wesentlich bei der Einhaltung der Produktanforderungen. Die britische Industrie ist daher sehr darauf bedacht, ihren Einfluss bei der Normerarbeitung nicht zu verlieren. Nach bisherigem Stand der Verhandlungen wird das britische Normungsinstitut BSI seine Beteiligung und Mitgliedschaft bei CEN/CENELEC in veränderter Form fortsetzen. Die Neuregelung wurde notwendig, da bislang nur Normungsorganisationen aus EU-, EFTA1- und EU-Kandidatenländern Mitglied bei CEN/CENELEC waren.

Um Zeit für eine endgültige Einigung zu gewinnen, wurde vereinbart, die derzeitige CEN/CENELEC-Mitgliedschaft des BSI bis Ende 2021 fortzusetzen. Nach dem bisherigen Planungsstand ist vorgesehen, dass das BSI auch nach 2021 Mitglied bleibt, mit dem gleichen Maß an fachlicher Beteiligung von britischen Experten, allerdings aufgrund des eingeschränkten formalen Status mit weniger Einfluss auf die zukünftige CEN- und CENELEC-Politik. Dass Großbritannien nicht mehr Teil des Europäischen Wirtschaftsraums ist, hat bereits jetzt Verfahrensänderungen zur Folge: Wenn eine Norm bei der formellen Abstimmung nicht angenommen wird, wird die Abstimmung ohne die Stimme des BSI (und vergleichbarer Nicht-EWR-Mitglieder) neu berechnet. Reicht die Zustimmung dann aus, muss die Norm von allen EWR-Mitgliedern2 und jenen Nicht-EWR-Mitgliedern, die mit Ja gestimmt haben, angenommen werden. Wenn z. B. das Vereinigte Königreich ablehnend gestimmt hätte, wäre es in diesem Fall nicht gezwungen, die Norm zu übernehmen, da sie erst nach der erneuten Auszählung angenommen wurde.

Der neue Mitgliedsstatus des BSI bei CEN und CENELEC würde der britischen Industrie weiterhin ermöglichen, sich bei der Entwicklung von Normen in den TCs und WGs voll einzubringen. Das BSI wird die zusätzlichen Kosten übernehmen, die sich daraus ergeben, dass die EU-Kommission aus den Beiträgen der EU- und EFTA-Länder Mittel an CEN-CENELEC zur Finanzierung der Normung bereitstellt und dieser Zuschuss für das Vereinigte Königreich künftig wegfällt.

Der Mitgliedsstatus des BSI wird voraussichtlich im November 2021 von CEN und CENELEC bestätigt werden. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Dinge in den nächsten Jahren entwickeln werden. Zu hoffen bleibt in jedem Fall, dass die gute und nutzbringende Zusammenarbeit zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU im Bereich der Arbeits- und Produktsicherheit ihre Fortsetzung findet.

Philip Papard
OBE (Officer of the Order of the British Empire)

 

1 Europäische Freihandelsassoziation

2 Europäischer Wirtschaftsraum: EU-Mitgliedstaaten + Norwegen, Island und Liechtenstein