KANBrief 2/21

Der Stand der Technik und Normung

Ein Auftrag für die Normungsarbeit

Der Stand der Technik stellt für die Produktsicherheit ein zentrales Element dar. Allerdings wird der Begriff von verschiedenen Seiten – nicht zuletzt auf europäischer Ebene – oftmals etwas unterschiedlich ausgelegt oder aber in leicht unterschiedlicher Formulierung gebraucht. In der Normungsarbeit stellt sich die Frage, an welchem technischen Niveau sich Normanforderungen orientieren sollen1.

In Deutschland besteht seit der Kalkar-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Atomrecht vom 08.08.1978 ein weit akzeptiertes Drei-Stufen-Modell, das den Stand der Technik einordnet:

  • Allgemein anerkannte Regeln der Technik sind Prinzipien und Lösungen, „die in der Praxis erprobt und bewährt sind und sich bei der Mehrheit der Praktiker durchgesetzt haben“ (s. auch Bundesverwaltungsgericht 30.9.1996).
  • Der Stand der Technik wird an verschiedenen Stellen gesetzlich beschrieben. Die Gefahrstoffverordnung und die Betriebssicherheitsverordnung kennzeichnen ihn als „Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen, … insbesondere sind vergleichbare Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen heranzuziehen, die mit Erfolg in der Praxis erprobt worden sind“.
  • Der Stand von Wissenschaft und Technik ist das „technisch gegenwärtig Machbare“ (BVerfG, Kalkar-Beschluss 1978).

Eigenanspruch der Normung

Den Regelungen der internationalen (ISO/IEC Directives, Part 2), europäischen (CEN/CENELEC-Geschäftsordnung, Teil 3, Kap. 4) und deutschen (DIN 820-2) Normung zufolge besteht der Zweck von Normungsdokumenten darin, klare und eindeutige Festlegungen zu treffen, um den internationalen Handel und die Kommunikation zu fördern. Hierzu müssen Dokumente u.a.

  • unter Heranziehung aller vorhandenen Kenntnisse über den Stand der Technik verfasst werden
  • die aktuellen Marktbedingungen berücksichtigen
  • einen Rahmen für künftige technische Entwicklungen bieten.

Die besondere Bedeutung des Stands der Technik wird an der Notwendigkeit deutlich, eine Norm zu überarbeiten, wenn eine neue Technik ausreichend tragfähig und in den Markt eingeführt ist und daher als Stand der Technik angesehen werden kann (ISO Guide 78, Abschnitt 5.2; CEN Guide 414, Abschnitt 5.2). Noch deutlicher kommt dies in den Vorgaben der deutschen Normung (DIN 820-4, Abschnitt 7) zum Ausdruck: „Entspricht eine Norm nicht mehr dem Stand der Technik, … so muss der Inhalt überarbeitet werden.“

Rezeption der Normung – die Sicht der Gerichte

DIN-Normen „spiegeln den Stand der für die betroffenen Kreise geltenden anerkannten Regeln der Technik wider und sind somit zur Bestimmung des nach der Verkehrsauffassung zur Sicherheit Gebotenen in besonderer Weise geeignet“ (BGH 1.3.1988). Allerdings heben die deutschen Gerichte auch deutlich auf die der Normung innewohnende Dynamik ab. Normen haben „nicht schon kraft ihrer Existenz die Qualität von anerkannten Regeln der Technik und begründen keinen Ausschließlichkeitsanspruch“ (BVerwG 30.9.1996): „DIN-Normen können die anerkannten Regeln der Technik wiedergeben oder hinter ihnen zurückbleiben“ (BGH, Urteil vom 14.5.1998 – Az. VII ZR 184/97).

Auf einen anderen wichtigen Umstand weist der BGH im Urteil vom 10.3.1987 hin. „Normen sind keine Rechtssetzung, sie stellen mithin auch keine Rechtsvorschriften dar. […] Eine kritische Betrachtung der Anwendung mit Blick auf den erreichten Stand der Technik [ist] ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Das gilt insbesondere dann, wenn es sich […] um eine neu einzuführende oder gerade eingeführte Norm handelt, die sich erst noch‚ als anerkannte Regel der Technik‘ bewähren soll“.2

Stand der Technik aus Sicht der Rechtssetzer

Im Produktsicherheitsrecht ist der Stand der Technik ein abstrakter Rechtsbegriff. Nach der EU-Produktsicherheitsrichtlinie gilt ein Produkt für Verbraucher als sicher, wenn es den Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates, harmonisierten europäischen Normen, anderen Normen, dem Stand des Wissens und der Technik3 oder der billigerweise zu erwartenden Sicherheit entspricht. Das deutsche Produktsicherheitsgesetz formuliert in § 34(1), dass die Bauart überwachungsbedürftiger Anlagen dem Stand der Technik entsprechen muss.

Auch wenn der Stand der Technik in den einschlägigen EU-Rechtsgrundlagen nicht definiert ist, spielt der Begriff eine wichtige Rolle, beispielsweise in EU-Richtlinien unter dem Neuen Ansatz4, die auch die CE-Kennzeichnung regeln. So legt Anhang IX, Absatz 9.2, der EU-Maschinenrichtlinie für baumusterprüfpflichtige Maschinen fest, dass der Hersteller verpflichtet ist sicherzustellen, dass diese dem jeweiligen Stand der Technik entspricht. Erwägungsgründe 6 und 14 der Richtlinie betonen ebenfalls, dass dem Stand der Technik in der Normung Rechnung zu tragen ist.

Der Leitfaden der Europäischen Kommission für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU (Blue Guide) gibt vor, dass ein Hersteller in Ermangelung von Normen „Lösungen im Einklang mit dem allgemeinen Stand der Technik oder Wissenschaft“ entwickeln muss, um die wesentlichen Anforderungen der Rechtsvorschriften zu erfüllen (Blue Guide 2016, 4.1.2.2). Eine besondere Rolle kommt den harmonisierten europäischen Normen zu, für die anzunehmen ist, dass sie den „allgemein anerkannten Stand der Technik“ widerspiegeln und deren Konformitätsvermutung andernfalls zurückzunehmen wäre (Blue Guide 2016, 4.1.2.5).

Was muss ein Hersteller machen?

Deutlich in Bezug auf die tatsächlich erwartete Umsetzung wird der Leitfaden für die Anwendung der Maschinenrichtlinie 2006/42/EG in § 161: Die angewandten technischen Lösungen, mit denen die grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen erfüllt werden sollen, entsprechen dann dem Stand der Technik, wenn

  • in ihnen die wirksamsten technischen Mittel zur Anwendung kommen;
  • diese Mittel zu dem betreffenden Zeitpunkt zu Kosten zur Verfügung stehen, welche sich angesichts der Gesamtkosten der betreffenden Maschinenkategorie und des Ausmaßes der Gefährdung, auf die sich die Risikominimierung richten muss, auf einem angemessenen Niveau bewegen.
  • entsprechende technische Mittel allgemein am Markt verfügbar sind. Es kann von den Herstellern von Maschinen nicht erwartet werden, dass sie Lösungen einsetzen, die sich noch im Entwicklungsstadium befinden.

Hersteller müssen also den technischen Fortschritt berücksichtigen und die wirksamsten technischen Lösungen einsetzen, die für die betreffende Maschine geeignet sind, sobald sie zu angemessenen Kosten zur Verfügung stehen.

Konsequenz für die Normung

Die Normung ist ein wesentliches Element zur Konkretisierung des zunächst abstrakten Rechtsbegriffs des Standes der Technik. In dieser Aussage stimmen der Eigenanspruch der Normung, die Sicht der Rechtsetzung und die Einschätzung der Gerichte im Wesentlichen überein.

Eine unterschiedliche Sichtweise in der Wertung des Konzeptes liegt darin begründet, dass die Normung und Rechtsetzung ein Ziel formulieren, das durch die Arbeit in Normungsgremien umzusetzen ist. Die Rechtsprechung betrachtet hingegen vorrangig die Rechtswirkung der fertiggestellten Norm auf Dritte. Diese verändert sich naturgemäß dynamisch ab dem Tag der Veröffentlichung, da der Stand der Technik unabhängig von der Norm weiter fortschreitet.

Will also die Normungsarbeit den an sie herangetragenen Erwartungen im vollen Umfang gerecht werden, so muss eine Norm – zumindest zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung – dem Stand der Technik entsprechen. Die in den Normungsgremien tätigen Personen müssen sich dieser besonderen Verantwortung bewusst sein und aktiv nach technischen Lösungen suchen, die die hohen Anforderungen von Regelwerk und Rechtssetzer erfüllen. Sie können sich bei strittigen Entscheidungen nicht ausschließlich auf den – oft viel einfacher zu ermittelnden – kleinsten gemeinsamen Nenner zurückziehen. ‚Weniger ist mehr‘ gilt hier ausdrücklich nicht!

Michael Robert
robert@kan.de

1 Der Artikel versteht sich nicht als juristisches Gutachten. Die Verweise auf Gerichtsurteile entstammen einem KAN-Gutachten von Dr. Thomas Wilrich zur Rechtsprechung zu technischen Normen, 2016. www.kan.de/publikationen/kan-studien
2 Die rechtliche Nicht-Verbindlichkeit von Normen gilt jedoch nicht überall. So bestehen Ausnahmen, beispielsweise im europäischen Baurecht oder durch direkte Rechtsverweise auf Normen.
3 Die Passage in der englischen Fassung lautet „state of the art and technology“ und entspricht damit eher dem Wortlaut des deutschen ProdSG.
4 Nach dem Neuen Ansatz legen EU-Verordnungen und -Richtlinien im Bereich der Produkt­sicherheit grundlegende Anforderungen fest. Konkretisiert werden diese Anforderungen in europäischen Normen.