KANBrief 2/21
Bis 2049 will China – zum 100. Geburtstag der Volksrepublik – technologisch Weltspitze sein. Schon von 2030 an soll sich das Reich der Mitte als Weltmacht in Schlüsseltechnologien wie Künstlicher Intelligenz (KI) etablieren, ist bereits Weltmeister bei Patentanmeldungen. Parallel hat die Regierung in Peking die Macht des Setzens von Standards erkannt, um den technologischen Führungsanspruch auch durchzusetzen.
Die kommunistische Staatsführung fährt dabei mehrgleisig: Sie vereinheitlicht das nationale Normungswesen, bringt chinesische Experten verstärkt in leitenden Funktionen in internationale Normungsorganisationen wie ISO und IEC ein und sie versucht, eigene Standards mit der Initiative der “Neuen Seidenstraße” (“Belt and Road”) in die beteiligten Länder vor allem in Afrika, Asien und Europa zu exportieren.
Beim Wettlauf um Standards und Normen geht es um Geltung, aber auch um Gewinne. Wem der Standard gehört, dem gehört der Markt, pflegte Werner von Siemens zu sagen. Neben der Einflussnahme auf die industriepolitische Ausrichtung spielen auch Lizenzgebühren eine Rolle. Da die meisten proprietären Standards in der Technologiebranche bisher von ausländischen Unternehmen geschaffen werden, ist China hier global der zweitgrößte Zahler.
Frühe Industriestandards wurden vor allem von europäischen Ländern wie Deutschland gesetzt. Standards für das Internet werden in erster Linie von Gremien mit Sitz in den USA wie der Internet Engineering Task Force (IETF) oder dem World Wide Web Consortium (W3C) gemacht. Im Internet der Dinge (IoT), bei der Industrie 4.0 und anderen Zukunftstechnologien wie der E-Mobilität will Peking die Nase vorn haben.
Den Boden für den neuen Kurs bereitet hat vor allem das Forschungsprojekt “Chinese Standards 2035”. Die daran beteiligten Partner wie das chinesische Normungsinstitut SAC, die Akademie für Ingenieurwissenschaften, Universitäten und Forschungseinrichtungen beschäftigten sich etwa mit der Frage, wie das Normungssystem politische Ziele unterstützen kann. Sie legten dem chinesischen Staatsrat Anfang 2020 ihre Ergebnisse vor.
Die wichtigsten Empfehlungen lauten, eine chinesische Normungsstrategie zu entwickeln und die einst fünf Standard-Arten auf zwei zu reduzieren: solche mit nationaler und solche mit globaler Relevanz. Letztere sollen von einschlägigen Institutionen oder Verbänden und Technologie-Allianzen erstellt werden. Ferner rieten die Beteiligten, die Qualität des chinesischen Normungswesens zu erhöhen und ein Standardisierungsforum für die “Neue Seidenstraße” einzurichten.
Einen offiziellen Schlussbericht hat der Projektverbund bislang nicht veröffentlicht, auch einen Regierungsbeschluss für ein darauf aufbauendes Programm gibt es noch nicht. Dem Vernehmen nach wird ein unveröffentlichtes Papier dazu aber im Staatsrat als Vorlage für eine nationale chinesische Normungsstrategie diskutiert.
Die chinesische Botschaft in Berlin wollte sich nicht direkt dazu äußern. Sie verwies auf die SAC-Webseite. Das Normungsinstitut veröffentlichte dort im April ein Arbeitsprogramm für die nationale Normungsarbeit im Jahr 2021. Es besteht aus 90 Punkten und Arbeitsanforderungen und macht den Auftakt für die bis 2025 laufende Planperiode. Die Normung soll demnach eine stärkere Rolle etwa bei der Reduktion von CO2-Emissionen und der Wiederbelebung des ländlichen Raums spielen sowie auf verschiedenen Ebenen mit besserer Koordination zwischen Regionen und Branchen vorangetrieben werden. Das SAC fordert zudem eine höhere Beteiligung an der internationalen Standardisierung, nationale und internationale Normen zu harmonisieren sowie in diesem Feld mehr zu kooperieren.
Fakt ist: Das Wachstum der Normungsanträge Chinas bei ISO und IEC lag in den vergangenen Jahren je bei 20 Prozent. 2019 unterbreitete die Volksrepublik dort insgesamt 238 Vorschläge für internationale Normen. Parallel reichte sie 830 technische Dokumente bei der Internationalen Fernmeldeunion ITU ein – mehr als die drei nachfolgenden Staaten Südkorea, USA und Japan zusammen. Für Stirnrunzeln im Westen sorgte dabei der Vorschlag des Netzausrüsters Huawei, der im Zentrum der 5G-Sicherheitsdebatte steht, für ein neues Internetprotokoll (“New IP”): China wolle damit sein Modell des staatlich kontrollierten Netzes “inklusive Massenüberwachung” und Filter salonfähig machen, warnt Sibylle Gabler, Leiterin Regierungsbeziehungen bei DIN. Zudem trieben chinesische Firmen über die ITU etwa die Standardisierung der nicht weniger umstrittenen biometrischen Gesichtserkennung massiv voran.
Prinzipiell begrüßt Gabler, dass sich das Reich der Mitte stärker in ISO und IEC einbringt. In diesen Organisationen sei Transparenz gegeben und alle Experten weltweit hätten die Möglichkeit, ihre Interessen zu vertreten: “Das ist natürlich viel vorteilhafter als der Versuch, chinesische Normen global zu verankern.” Wichtig sei aber, “dass die internationalen Normen dann auch von allen unverändert übernommen und genutzt werden”. Da hapert es: Laut dem Maschinenbauverband VDMA setzte China ISO- und IEC-Normen 2010 mit dem niedrigen Niveau von 35 Prozent um – 2019 habe die Quote nur noch 24 Prozent betragen.
Die Volksrepublik bringt für die DIN-Vertreterin “alle Faktoren mit, um mit ihrem Normungsprogramm sehr erfolgreich zu werden”: Klare politische Ziele, das Verständnis für Normung als strategisches und geopolitisches Instrument sowie exzellente eigene technische Fachleute. Herausfordernd dabei sei, dass die westliche Normungstradition einen Graswurzelansatz vorsehe, Wirtschaft und andere Interessenvertreter also den Ton angäben. Dies sorge für marktnahe Projekte, “kommt aber an seine Grenzen, wenn andere Regionen einen kraftvollen Top-Down Ansatz fahren”.
Dazu tritt laut Gabler: “Die Vielzahl von Standardisierungsaktivitäten Chinas auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene trifft auf begrenzte Ressourcen der europäischen Experten.” Ändere sich hier nichts, “wird sich über die nächsten Jahre unser Einfluss in der internationalen Normung verringern”. Im Moment sei Deutschland mit Sekretariaten und Obleuten in ISO und IEC zwar noch gut aufgestellt.
“Allerdings leben wir hier von Entscheidungen aus der Vergangenheit”, gibt die Insiderin zu bedenken. “Auf neue und frei werdende Positionen bewerben sich heute oft andere. In aus politischer Sicht strategisch wichtigen Projekten sind nicht immer deutsche Experten vorhanden.” Die Politik müsse helfen, “ein Gegengewicht zur massiven Förderung in China zu bilden”. Initiativen wie die von DIN und Verbänden zusammen mit dem Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) 2020 veröffentlichte Normungsroadmap KI sollten um Bereiche wie Kreislaufwirtschaft oder Wasserstoff erweitert werden.
“Statt Einzelmaßnahmen braucht es einen strategischen Umgang mit China”, fordert Simon Weimer, Technikreferent beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). “Normen und Standards müssen zentrale Bausteine einer europäischen China-Strategie sein.” Der deutschen Industrie bereite die Masse an Vorschlägen für internationale Normen aus der Volksrepublik große Sorge. Der BDI sehe darin “ein strategisches und politisch gewolltes Vorgehen”, in das Peking große Summen investiere und so gezielt Einfluss auf bestimmte Technologiefelder nehme. Es werde immer schwieriger, mit eigenen Ressourcen mitzuhalten.
“Sollte sich ein chinesischer Standard auf dem Markt etablieren, droht eine Verringerung der Nachfrage nach deutschen und europäischen Technologien und damit ein Verlust an Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit”, gibt Weimer zu bedenken. “Die EU muss die volkswirtschaftliche und politische Bedeutung von Normen erkennen und gemeinsam mit der Industrie an einer zukunftsorientierten Strategie arbeiten.”
Thomas Zielke, Leiter des Referats Normungs- und Standardisierungspolitik beim BMWi, will die Lage weiter beobachten: “Wir gehen zum jetzigen Zeitpunkt nicht davon aus, dass sich die Strategie negativ auf die Möglichkeiten für deutsche Unternehmen in China oder die bilateralen Normungsdialoge auswirken wird.” Kritisch beäugt das Ressort aber die “Neue Seidenstraße”: damit könnten nationale chinesische Normen und Standards in andere Länder befördert werden, was im Widerspruch zum Ansatz eines internationalen Normungsprozesses stehen und China so selbst schaden dürfte.
Stefan Krempl
(freier Journalist)