KANBrief 4/14

Zu viel Zeitdruck durch Politik und globales Umfeld?

Seit 1991 regelt das Wiener bzw. Dresdner Übereinkommen ( Wiener Abkommen zwischen ISO und CEN:
Dresdner (bis 1996 Lugano) Vereinbarung zwischen IEC und CENELEC) die Zusammenarbeit zwischen ISO und CEN sowie zwischen IEC und CENELEC. Ziel ist es, Normen vorzugsweise auf internationaler Ebene zu erarbeiten und durch parallele Abstimmungsverfahren möglichst gleichzeitig auch auf europäischer Ebene zu verabschieden. Dies und der zunehmende, auch politisch motivierte Zeitdruck machen es schwieriger, einen für alle tragbaren Konsens zu finden.

Die Dresdner Vereinbarung bindet CENELEC sehr eng an IEC: Etwa 70 % der europäischen Normen sind dort identisch mit internationalen Normen der IEC. Die technischen Komitees (TC) von ISO und CEN sind freier und können auch unabhängig voneinander Normen erarbeiten, beispielsweise auch bei mandatierten europäischen Normungsvorhaben. Der Anteil der mit ISO identischen Normen beträgt bei CEN nur etwa 30 %.

Die von den Übereinkommen eingeforderte enge Zusammenarbeit erzwingt auch, dass die Regularien (ISO/IEC Directives; CEN/CENELEC Internal Regulations) der vier internationalen und europäischen Normungsorganisationen weitestgehend identisch sind – auch wenn gewisse Unterschiede unvermeidlich sind. Infolgedessen wirken sich Änderungen der ISO/IEC-Direktiven fast unmittelbar auch auf die Erarbeitung harmonisierter Normen aus.

Angleichung von Regularien

Aktuelles Beispiel für diese Verquickung sind die von der internationalen Ebene stammende Verkürzung der Abstimmungsfristen und die Möglichkeit, auf einen Schlussentwurf zu verzichten, um die Normungsarbeit zu beschleunigen.

• Bisher hatten die Europäischen Normungsorganisationen fünf Monate Zeit für die öffentliche Umfrage zu einem Norm-Entwurf (prEN). Künftig werden dies in der Regel nur noch drei Monate, und nur auf besonderen Antrag vier Monate sein. Ob es den Normungsorganisationen gelingt, die Entwürfe dennoch zumindest zwei Monate vor Ende der Kommentierungsfrist tatsächlich öffentlich zugänglich zu machen (was bisher schon eine Herausforderung war), bleibt abzuwarten. Gelingt dies nicht, würde die Einflussnahme der Kreise, die nicht direkt in einem Normenausschuss mitarbeiten können, weiter erschwert.

• Auf internationaler Ebene ist es seit einiger Zeit möglich, auf einen Schlussentwurf (FDIS) zu verzichten und eine Norm bereits direkt nach der Entwurfsphase und der Umfrage zu veröffentlichen. Allerdings sind die Voraussetzungen hierfür bei ISO und IEC unterschiedlich. IEC lässt dies schlüssigerweise nur dann zu, wenn zum Entwurf (IEC/CDV) keine Nein-Stimme von den nationalen Normungsorganisationen eingegangen ist. Bei ISO soll der Verzicht auf den Schlussentwurf sogar zum Normalfall werden – vorausgesetzt der vorherige Entwurf (ISO/DIS) hat die ohnehin für den nächsten Projektschritt erforderliche Zweidrittelmehrheit erhalten: Die Führung eines ISO/TC (Chairman, Sekretariat und Projektleitung) darf nur dann „optional“ einen FDIS auf den Weg bringen, wenn eine signifikante Anzahl von Ländern mit erheblichem Interesse am Normungsthema Kommentare abgegeben hat (ISO/IEC Directives, Part 1, Consolidated ISO Supplement – Procedures specific to ISO, Fifth edition, 2014). Solche äußerst interpretationsbedürftigen und im Zweifel kaum erstreitbaren Bedingungen lassen befürchten, dass in Einzelfällen auf Schlussentwürfe verzichtet werden könnte, obwohl diese für eine ausreichende Qualität der Norm erforderlich wären.

Auswirkungen auf die europäische Ebene

In der EU haben harmonisierte Normen aufgrund der mit ihnen verbundenen Konformitätsvermutung eine wesentlich größere Bedeutung als internationale Normen. Trotzdem übt die Europäische Kommission einen völlig unangemessenen Zeitdruck auf die Normung aus: Nicht zuletzt auch aufgrund der Verordnung (EU) 1025/2012 sollen ab Anfang 2015 die oben genannten ISO-Regelungen auch bei CEN gelten. Auf einen Schlussentwurf (FprEN) zu verzichten, muss allerdings von einem CEN/TC ausdrücklich beschlossen werden und soll nicht möglich sein, wenn nach der Umfrage technische Änderungen vorgenommen wurden oder der CEN-Consultant ein negatives Votum abgegeben hat.

Bei CENELEC wird eine Anpassung an die entsprechenden IEC-Regeln ebenfalls vorbereitet. Zu hoffen ist, dass CENELEC den IEC-Vorgaben treu bleibt und nur dann auf einen FprEN verzichtet, wenn im Rahmen der öffentlichen Umfrage keine Nein-Stimme eingegangen ist. Da CEN und CENELEC an einer Angleichung ihrer Abstimmungsprozesse arbeiten, wäre es erfreulich, wenn auch CEN sich an dieser Maxime orientieren würde.

Ob sich der insgesamt immer spürbarer werdende Zeitdruck negativ auf die Qualität der Normen oder gar das von ihnen beschriebene Schutzniveau auswirkt, wird erst in einigen Jahren festzustellen sein.

Corrado Mattiuzzo
mattiuzzo@kan.de