KANBrief 3/17
Den EU-Mitgliedsstaaten steht es frei, ihr Gesundheitswesen nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Gleichzeitig versuchen aktuell zahlreiche europäische und internationale Normen, diesen Bereich stärker zu harmonisieren. Werden Behandlungen künftig weniger durch die Vorgaben der nationalen Sozialversicherung und Ärzteverbände, sondern vielmehr durch ein genormtes europäisches Gesundheitswesen geprägt sein? Wohin die Reise gehen könnte, zeigt eine fiktive Fallstudie.
Die EU-Kommission will mit europäischen Normen z. B. grenzüberschreitende eHealth-Dienste, die Telemedizin, einheitliche Krebsregister oder die Qualität von Gesundheits-Apps fördern. Zudem will sie mit der Normung der Qualitätssicherung bei der Brustkrebsbehandlung für weitere Felder lernen. Für medizinische Laboratorien liegen mit der EN ISO 15189 bereits seit 2012 einheitliche Anforderungen vor.
Wie es kommen könnte: Die elektronischen Daten einer an Brustkrebs erkrankten Röntgenassistentin werden länderübergreifend zwischen Dienstleistern des Gesundheitswesens übermittelt, ihre Röntgenaufnahmen und ihre Gewebeproben im Ausland ausgewertet. Ihre Brustkrebsbehandlung erfolgt qualitätsgesichert nach europäischen Standards. Eine genormte Gesundheits-App, die z. B. die physiologischen Daten der Patientin aufzeichnet, begleitet die Behandlung.
Ärztliche Leistungen finden Eingang in die Normung: Die EN 16372 „Ästhetische Chirurgie und ästhetische nicht-chirurgische ärztliche Dienstleistungen“ ist so widersprüchlich zum deutschen Medizinrecht, dass Deutschland sie bisher ablehnt. Dienstleistungen von Ärzten mit einer Zusatzqualifikation in Homöopathie behandelt die DIN EN 16872. Zu Traditioneller Chinesischer Medizin (TCM) existieren internationale Normenreihen wie die ISO 18668.
Die Patientin bekommt einen Eingriff durch einen plastischen Chirurgen, der nach Norm zertifiziert ist, nicht jedoch die deutschen medizinischen Leitlinien erfüllt. Ergänzende Behandlungen mit Homöopathie und TCM fußen auf Normanforderungen.
Das CEN/TC 450 plant eine europäische Norm zur Patientenbeteiligung in der Pflege. Die DIN EN ISO 22870 standardisiert „Patientennahe Untersuchungen (POCT) – Anforderungen an Qualität und Kompetenz“.
Die Patientin wird gemäß Norm personenzentriert gepflegt, betreut und an den Entscheidungen beteiligt. Bestimmte Untersuchungen, z. B. zur Bestimmung der Nierenfunktionswerte im Notfall, basieren auf DIN EN ISO 22870.
Das neue ISO/TC 304 will die Verwaltung im Gesundheitswesen standardisieren. Zum Qualitätsmanagement existiert seit 2012 die DIN EN 15224. Ein aktuelles DIN-Projekt befasst sich mit der Reinigung in Krankenhäusern.
Krankenhäuser, Rehazentren und Arztpraxen werden nach europäischen und internationalen Normen gemanagt und gereinigt.
Wer treibt diese Entwicklung an?
Die EU-Kommission erkennt formal an, dass gemäß Art. 168 AEUV die Mitgliedsstaaten für das Gesundheitswesen zuständig sind. Gleichzeitig aber will sie die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung sowie die Rechte und die Sicherheit der Patienten (und damit auch der Beschäftigten) durch Normen stärken.
CEN und ISO nutzen diesen Rückenwind. Nach Vorarbeiten des CEN-Beratungsgremiums für Dienstleistungen (SAGS) entwickelt nun die Fokusgruppe „Health care services“ Empfehlungen für die CEN-Leitungsebene (CEN Technical board (BT)). Die Fokusgruppe versucht, eine gemeinsame Zielsetzung und Sprache zu Themen wie Prozessen, Gebäuden und Geräten, Management oder Leitfäden im Gesundheitswesen zu finden (Spiegelgremium der CEN-Fokusgruppe: Kommission Gesundheitswesen von DIN).
Nationaler Gegenwind
Im EU-Ministerrat haben sich, initiiert von Polen, Deutschland und zahlreiche andere Länder gegen diese Normung ausgesprochen. In der CEN-Fokusgruppe bemühen sich die deutschen interessierten Kreise trotz massiven Gegenwindes der Befürworter um Schadensbegrenzung. Sie versuchen z. B. die Qualifizierung in medizinischen Berufen oder Vorgaben für die Behandlung aus der Normung herauszuhalten. Müssten nicht „Tabuzonen“ für die Normung definiert werden? Oder sollten Kompromisse gemacht werden? Könnten bestimmte Normen ggf. Innovationen befördern (etwa beim Qualitätsmanagement) oder einen Maßstab bei europäischen Ausschreibungen bieten? Welche Strategie dauerhaft erfolgreich sein wird (Mitwirkung? Positionierung? Heraushalten?) diskutieren derweil die verschiedensten Kreise, z. B. die Ärztevereinigungen, Gesundheitsministerien und die Europäische Plattform der Sozialversicherung (ESIP: European Social Insurance Plattform). Das Ergebnis ist offen.
Angela Janowitz
janowitz@kan.de