KANBrief 3/15

Ergonomienormung will praxisnäher und präsenter werden

Ergonomie ist ein horizontales Aufgabenfeld der Normung: Systeme, Produkte und Dienstleistungen sollen entsprechend den Eigenschaften, Bedürfnissen und Fähigkeiten von Menschen gestaltet sein. Georg Krämer, bis 2015 Vorsitzender des ISO/TC 159 Ergonomie, und sein Nachfolger Peter Frener beschreiben, was die Ergonomienormung aktuell unternimmt, um der Ergonomie zu mehr Präsenz in sämtlichen Anwendungsbereichen zu verhelfen.

Herr Krämer, was hat sich in den vergangenen Jahren in der Ergonomienormung getan?

Die Ergonomie umfasst zahlreiche Arbeitsfelder, die in unterschiedlichsten Arbeitsgruppen organisiert sind. Um die Normungsarbeit mit den zur Verfügung stehenden Experten effizienter zu machen, war es erforderlich, die Strukturen des internationalen, des europäischen und des nationalen Gremiums anzugleichen. Dieses Ziel wurde behutsam verfolgt und es besteht nunmehr eine klare Struktur, die eine einfache Zuordnung und Zuarbeit zulässt.

Was das Inhaltliche betrifft, hat sich die Ergonomienormung in den Anfängen primär mit der Gestaltung von Arbeit beschäftigt. Im Laufe der Zeit war es erforderlich, den Anwendungsbereich auf Einsatzmöglichkeiten außerhalb von Arbeitsplätzen auszudehnen und die ergonomischen Anforderungen im Rahmen einer Grundlagennorm zu beschreiben. Mit der DIN EN ISO 26800 wurde ein Dokument geschaffen, das erstmals Ergonomie und Grundsätze für den gesamten Lebenszyklus von Produkten in sämtlichen Lebensbereichen normativ festlegt.

Die größte Herausforderung stellt die enorme Anwendungsvielfalt der Ergonomie dar. Damit Normen den Stand der Technik widerspiegeln können, ist umfangreiches Wissen auf diversen Gebieten erforderlich. Um dieses Wissen zu generieren, haben wir Netzwerke mit unterschiedlichsten Institutionen aufgebaut und Ansprechpartner benannt. Nationale Gesellschaften für Ergonomie sowie deren europäische und internationale Institutionen FEES (Federation of European Ergonomics Societies) und IEA (International Ergonomics Association) gehören dabei zu den wichtigsten Partnern.

Was tun Sie gegen die unzureichende Anwendung der Ergonomienormen, die immer wieder bemängelt wird?

Das ISO/TC 159 wurde 1974 gegründet und hat bis heute 120 Ergonomienormen veröffentlicht. Diese haben bisher jedoch im Wesentlichen nur einen kleinen Expertenkreis erreicht und (noch) nicht die erhoffte Verbreitung gefunden. „Tu Gutes und sprich darüber“ muss daher die Devise lauten. Es ist wichtig, Wege zu identifizieren, die helfen, den Bekanntheitsgrad der Normen zu verbessern.

Eine Arbeitsgruppe im CEN/TC 122 hat sich dieser Aufgabe angenommen und gemeinsam mit der FEES eine Umfrage zum Gebrauch und Nutzen der Ergonomienormen durchgeführt. Die einzelnen Arbeitsgruppen werden diese Ergebnisse nun Schritt für Schritt konkretisieren. Ein Beispiel ist die Empfehlung, den Einführungstext bei der Erarbeitung oder Überarbeitung von Normen mit Blick auf die Anwender zu formulieren, damit der Nutzen und die Wechselwirkung mit bestehenden Normen transparenter und nachvollziehbarer werden.

Herr Frener, wie wünschen Sie sich die Ergonomienormung von morgen?

Insbesondere die europäische Gesetzgebung hat die Bedeutung der ergonomischen Gestaltung von Prozessen, Anlagen und Hilfsmitteln ganz aktuell deutlich in den Vordergrund gerückt. Um diesen erhöhten Anforderungen gerecht zu werden, müssen wir versuchen, in anderen Normungsfeldern unmittelbar mit einzugreifen. Ein solches Beispiel ist die gerade entstehende Normungsgruppe für kombinierte persönliche Schutzausrüstung, in der neben den Experten für die einzelnen Bestandteile auch Fachleute für Ergonomie mitarbeiten werden. Wenn dieses Beispiel Schule macht, können wir auch über diesen Weg unser Umfeld Stück für Stück ergonomischer gestalten.

Wo drückt heute noch besonders der Schuh?

Eine konkrete Aufgabe stellt sich bei der Bereitstellung von anthropometrischen Daten. Die Maße des menschlichen Körpers verändern sich schleichend zum Beispiel durch geänderte Verhaltens- und Essgewohnheiten. Vor allem in Europa sind aktuelle Daten nicht mehr frei verfügbar: Einige große Konzerne haben Erhebungen durchgeführt, allerdings nur für eigene Zwecke.

In Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission werden ab Herbst 2015 die anthropometrischen Daten von Kindern in einer breit angelegten Studie auf Aktualität überprüft und in einem zweiten Schritt an die aktuellen Gegebenheiten angepasst. Darauf aufbauend sollen danach auch die Werte aller Menschen in Europa den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend ermittelt und in Normen festgehalten werden.

Dies sind nur einige konkrete Vorhaben für die nähere Zukunft. Eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Normung im Bereich der Ergonomie ist unerlässlich.