KANBrief 3/23
In wohl kaum einem anderen Industriesektor haben Normen eine ähnlich hohe Bedeutung wie im Maschinenbau. Die neue EU-Maschinenverordnung stellt die Normenausschüsse vor die große Aufgabe, die Normen auf ihre Konformität mit der neuen gesetzlichen Grundlage zu überprüfen und ggf. Maßnahmen zu ihrer Anpassung vorzunehmen.
Das hohe Sicherheitsbedürfnis der Anwender beim Umgang mit Maschinen – in Kombination mit der Vielfalt an Maschinentypen – hat über die Jahre zu der erstaunlich großen Anzahl von mehr als 800 harmonisierten Normen unter der europäischen Maschinenrichtlinie geführt. Ihre Anwender dürfen davon ausgehen, dass die darin enthaltenen Lösungen und Maßnahmen geeignet sind, die gesetzlichen Anforderungen der Verordnungen oder Richtlinien zu erfüllen, für welche sie erarbeitet wurden. Von diesen über 800 Normen befassen sich etwa 100 sogenannte B-Normen mit bestimmten Sicherheitsaspekten oder Schutzeinrichtungen, die eine Vielzahl von Maschinen betreffen. Mehr als 700 Normen beschreiben Anforderungen und technische Lösungen für konkrete Maschinentypen (C-Normen). Im Zusammenspiel zwischen Maschinenrichtlinie und harmonisierten Normen hat sich über die Jahre ein bewährtes System etabliert, welches für Maschinenprodukte ein weltweit anerkanntes hohes Sicherheitsniveau gewährleistet.
Mit der am 29. Juni 2023 im Amtsblatt der EU veröffentlichten neuen Verordnung (EU) 2023/1230 über Maschinen (MaschVO) hat die EU-Kommission nun ein neues gesetzliches Kapitel aufgeschlagen. Die Maschinenverordnung löst zum 20. Januar 2027 per Stichtagsregelung – also ohne Übergangsfrist – die aktuell noch gültige Maschinenrichtlinie 2006/42/EG (MRL) ab. Neben zahlreichen formellen und konzeptionellen Anpassungen des Rechtstexts wurden auch im Anhang I der MRL, der die wesentlichen Sicherheitsanforderungen (EHSR – Essential Health and Safety Requirements) beschreibt, signifikante Änderungen vorgenommen. In der MaschVO finden sich die EHSR im neuen Anhang III. Die Erfüllung dieser Sicherheitsanforderungen ist die Hauptaufgabe der harmonisierten Normen. Durch die Änderungen stellen sich unweigerlich folgende Fragen:
Welche unmittelbaren Auswirkungen haben die neuen und veränderten EHSR auf die Inhalte der heutigen harmonisierten Normen? Und können die unter der MRL harmonisierten Normen unter der MaschVO weiterverwendet werden und behalten sie ihre Konformitätsvermutung?
Die Beantwortung der ersten Frage ist nicht trivial, denn die praktische bzw. normative Umsetzung der neuen EHSR „Schutz gegen Korrumpierung“, „Überwachungsfunktion bei autonomen mobilen Maschinen“ oder „Vermeidung des Risikos des Kontakts mit stromführenden Freileitungen“ wird im Detail noch intensiv diskutiert.
Ein grober Überblick über die Geltungsbereiche der Normen zeigt aber: Kaum eine Maschinengattung dürfte von den neuen oder stark veränderten EHSR komplett unberührt bleiben. Es müssten also sämtliche harmonisierten Normen auf die Relevanz der neuen EHSR überprüft und im Falle ihrer Betroffenheit sowohl inhaltlich als auch formell gemäß den Verfahrensregeln der EU-Kommission (tabellarischer Anhang ZA, datierte Verweise) angepasst werden. Dazu wäre theoretisch eine Überarbeitung nahezu aller rund 800 harmonisierten Normen erforderlich – jeweils einschließlich der umfangreichen Assessments durch die HAS-Consultants. Eine Aufgabe, die in den verbleibenden dreieinhalb Jahren bis zur verbindlichen Anwendung der MaschVO völlig unrealistisch ist.
Daher plant die EU-Kommission – Stand August 2023 – in einer außerordentlichen Aktion, sämtliche europäischen Normen (sowohl EN als auch EN ISO), die zu einem noch zu bestimmenden Zeitpunkt in der ersten Jahreshälfte 2026 unter der MRL harmonisiert sind, en bloc als harmonisierte Normen unter die neue MaschVO zu transferieren. Einzige Einschränkung: Diese Normen können natürlich nur für jene EHSR eine Harmonisierung gewährleisten, die sie auch schon unter der MRL adressieren. Um dies bei der Listung im Amtsblatt für Normennutzer kenntlich zu machen, wird es unerlässlich sein, dass die verantwortlichen Technischen Komitees (TCs) ihr jeweils gesamtes Normenportfolio einer Überprüfung (NICHT notwendigerweise einer Überarbeitung) unterziehen, um die jeweiligen Lücken zur neuen MaschVO zu identifizieren. Gleichzeitig werden bei CEN und CENELEC Arbeiten gestartet, um normative Lösungen zu den neuen bzw. signifikant modifizierten EHSR zu erstellen, so dass die identifizierten Lücken geschlossen werden können.
Derzeit wird mithilfe des koordinierenden CEN/CENELEC-Sektorforums „Machinery“ eine Handlungsanleitung erstellt, um den TCs Hilfestellung bei dieser sehr ambitionierten Aufgabe zu geben. Die Anleitung soll spätestens gegen Ende 2023 verfügbar sein.
Natürlich ist es bereits heute möglich und ratsam, bei anstehenden Normrevisionen oder neuen Projekten die Konformität mit der neuen MaschVO anzustreben. Somit ist zu hoffen, dass bis Anfang 2027 tatsächlich ein gewisser Anteil von Normen an die neue MaschVO angepasst ist. Für das Gros der harmonisierten Normen wird dies aber erst möglich sein, wenn die MaschVO bereits angewendet werden muss.
Ein genauerer Zeitrahmen zu zukünftigen Normenrevisionen wird mit dem neuen Normungsauftrag der Europäischen Kommission zur MaschVO erwartet, der im kommenden Jahr verfügbar sein soll. Im Gegensatz zu den früheren Mandaten ist dieser Normungsauftrag zeitlich begrenzt (vermutlich zwischen 5 und 10 Jahren). Er bildet die juristische Basis, auf deren Grundlage harmonisierte Normen unter der neuen MaschVO erstellt werden dürfen. Seit Ende Juni ist ein erster Entwurf des Normungsauftrags veröffentlicht. Die Kommentare der interessierten Kreise werden voraussichtlich im Herbst in den zuständigen Kommissionsgremien diskutiert.
Als weitere Maßnahme soll schließlich der Übergang der harmonisierten Normen von der MRL zur MaschVO für Normanwender erleichtert werden. Normen, welche von 2024 bis zur 1. Hälfte 2026 veröffentlicht werden, sollen mit zwei Anhängen ZA ausgestattet werden – je einem für die MRL und einem für die MaschVO – aus denen hervorgeht, welche Abschnitte der Norm welche Rechtsvorschriften abdecken. Auch hierzu werden die betroffenen Normen-TCs zeitnah informiert.
All diese beschriebenen Maßnahmen tragen dazu bei, einen möglichst reibungslosen Übergang der harmonisierten Normen von der alten MRL zur neuen MaschVO zu erreichen.
Dr. Frank Wohnsland, VDMA
Vorsitzender des CEN/CENELEC-Sektorforums „Machinery“
frank.wohnsland@vdma.org