KANBrief 1/20

Disruptive Umbrüche in Technik, Wirtschaft und Gesellschaft

Kann die Normung mit immer schnelleren Innovationen Schritt halten und in Zukunft noch im selben Maße zu Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit beitragen, wie sie das aktuell tut? Das Feld, auf dem dieser Wettlauf stattfindet, ist sehr komplex. In einigen Bereichen finden Entwicklungen statt, die – anders als bisher – disruptiv verlaufen. Dinge ändern sich in kurzer Zeit und passen aufgrund völlig neuer Ansätze nicht mehr in das bestehende System.

Wenn über Veränderungen gesprochen wird, denen unsere Gesellschaft unterworfen ist, stehen häufig technische Neuerungen im Vordergrund. Dabei sind diese nur ein Aspekt des gesamten Prozesses. Damit einher gehen auch soziale, kulturelle, rechtliche und wirtschaftliche Entwicklungen, die in einer Wechselbeziehung zur Technologie stehen. Konkret fühlbar wird dies etwa beim Transportgewerbe, einem Beispiel dafür, wie in ganzen Branchen komplette Geschäftsmodelle zerstört und neu geschaffen werden.

Wandel von Beschäftigung und Institutionen

Kennzeichnend für diese Disruption ist nicht zuletzt, dass die Zahl atypischer Beschäftigungsverhältnisse zunimmt. Damit sind Formen der Arbeit gemeint, bei denen unklar ist, ob sie innerhalb herkömmlicher Arbeitsverhältnisse mit Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Arbeitsvertrag erbracht werden – oder nur im Rahmen eines Werkvertrags zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer, die auf Internetplattformen zueinander finden.

Wichtig ist zu begreifen, dass dieser Umbruch nicht nur die Unternehmen selbst betrifft. Wenn sich die aktuelle Dynamik verstärkt, wird das auch für die Institutionen, die bislang das Spielfeld mitbestimmen, nicht ohne Folgen bleiben. Dies betrifft vor allem die Sozialpartner, deren Organisationen sich derzeit dafür einsetzen, dass das Wissen der Anwender in die Normung Eingang finden kann. Man muss sogar einen Schritt zurückgehen und sagen: Diese Organisationen ermöglichen erst, dass Arbeitgeber und Beschäftigte ihre Interessen überhaupt artikulieren können. Was, wenn der Umbruch nun auch diese Institutionen erreicht: Wenn es nur noch Auftragnehmer gibt, wer bildet dann Gewerkschaften? Wenn es nur noch Auftraggeber gibt, wie artikulieren diese dann ihre Interessen, wenn der klassische Arbeitgeberverband ausgedient hat? Kurzum: Wie können wir gewährleisten, dass Standards für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit eingehalten werden, unabhängig von der Art des Arbeitsvertrages? Die Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit und die Internationale Arbeitsorganisation plädieren für eine Anpassung der Rahmenbedingungen, um für Personen in allen Beschäftigungsformen den Sozialversicherungsschutz zu gewährleisten.

Europa – Nordamerika – Asien

Man könnte die Frage der Disruption aber auch rein geografisch verstehen, insbesondere, wenn man die Verschiebung des wirtschaftlichen Zentrums der Welt nach Nordamerika und vor allem Asien betrachtet. Die Künstliche Intelligenz ist ein Bereich, in dem die USA und China die Nase vorn haben – und möglicherweise bald uneinholbar sind. Dies zeigen allein die Summen, mit denen die Regierungen beider Länder die Forschung zur künstlichen Intelligenz fördern. Die Volksrepublik China lässt sich diese Forschung angeblich 60 Milliarden Dollar im Jahr kosten, die Google-Mutter Alphabet 21 Milliarden. Wo steht Deutschland im Vergleich? Bei drei Milliarden – wobei Experten davon ausgehen, dass die Investitionen nicht erreicht werden. Auch für die EU sieht es nicht besser aus. Welche Rolle kann Europa, können europäische Normungsinstitutionen eigentlich spielen, wenn China und die USA den technischen Fortschritt unter sich ausmachen?

Europäische Werte

Mit der geografischen Veränderung geht möglicherweise auch eine Veränderung der Wertvorstellungen einher, die unser System gestalten. Gerade für den Bereich der Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit sind diese von essenzieller Bedeutung. Welche Risiken sind wir bereit einzugehen? Wo ziehen wir die Grenze zwischen Vorsorge und Freiheit? Je nach kulturellem Kontext werden diese Fragen sehr unterschiedlich beantwortet. Das betrifft den asiatischen Raum, aber auch schon die USA, wie man etwa beim Handelsabkommen TTIP an der Diskussion zu den Chlorhühnchen sehen konnte.

Damit die Normung angesichts der geschilderten Disruptionen ein wirkungsvolles Instrument bleibt, um Sicherheit und Gesundheit weltweit zu fördern, muss sie ihr Netzwerk von Experten, Anwendern und Sozialpartnern ausbauen und nutzen. Nur durch ein koordiniertes Zusammenspiel dieser Akteure kann die Normung das benötigte technische Wissen zusammentragen. Für eine effektive Verbreitung dieses Wissens ist zügiges und vorausschauendes Handeln unabdingbar. Auf diesem Wege und durch eine Beschleunigung in ihren Prozessen wird die Normung mit den technischen Entwicklungen Schritt halten können sowie die Durchsetzung von Innovationen in der Praxis fördern, was wiederum ihre Akzeptanz erhöhen wird.