KANBrief 3/20

Kennzahlen zum Arbeitsunfallgeschehen in internationalen Normen

Das ISO TC 260 „Personalmanagement“ hat eine Technische Spezifikation erarbeitet, in der Kennzahlen zum Arbeitsunfallgeschehen international genormt werden. Der Verwaltungsrat der französischen Arbeitsschutzorganisation EUROGIP hat in seiner Sitzung vom 12. November 2019 erhebliche Bedenken zu diesem Projekt geäußert und ein Positionspapier (pdf) erarbeitet, das hier in Auszügen wiedergegeben ist.

Die Spezifikation ISO/TS 24179 „Personalmanagement – Arbeitsschutzkennzahlen“ soll die 2018 veröffentlichte internationale Norm ISO 30414 „Personalmanagement – Leitlinien für das interne und externe Human Capital Reporting“ ergänzen. Ziel ist es, Kennzahlen zu definieren, mit denen Personalleiter in Unternehmen ihre Wertschöpfung belegen können. Dazu zählt zum Beispiel die Anzahl der Arbeitsunfälle (mit und ohne Arbeitsunfähigkeit) oder der Todesfälle am Arbeitsplatz.

Die konsequente Erfassung und Nachverfolgung arbeitsbedingter Risiken und Unfälle zum Zwecke einer besseren Prävention ist grundsätzlich zu begrüßen. Globale Unfallkennzahlen würden es jedoch keineswegs ermöglichen, Unternehmen weltweit miteinander zu vergleichen und auf dieser Grundlage die Qualität der getroffenen Präventionsmaßnahmen zu beurteilen. Im Gegenteil wären sie womöglich sogar kontraproduktiv, und zwar aus folgenden Gründen:

Der Begriff „Arbeitsunfall“

In den meisten Ländern ist der Begriff „Arbeitsunfall“ eng mit dem Unfallversicherungssystem verbunden, wobei innerhalb eines Landes durchaus verschiedene Systeme nebeneinander bestehen können (z.B. gesetzliche, private, branchenspezifische Unfallversicherungen). Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie uneinheitlich der Begriff „Arbeitsunfall“ verstanden wird. So schließen einige Systeme alle Unfälle aus der Definition aus, die nicht zu einer Arbeitsunfähigkeit oder nur zu einer bestimmten Anzahl an Fehltagen führen. Andere wiederum schließen sämtliche Unfälle ein. Einige Systeme erkennen zudem Unfälle nicht als Arbeitsunfälle an, wenn sie auf Fehlverhalten oder Vorsatz des Unfallopfers zurückzuführen sind. In anderen Systemen liegen auch diese Fälle in der Verantwortung des Unternehmens. Ab wann genau eine Pflicht zur Meldung eines Unfalls besteht, ist daher von Land zu Land sehr unterschiedlich.

Bei plötzlichen Todesfällen während der Arbeit (z.B. durch einen Herzinfarkt) schließen viele Systeme eine Anerkennung als Arbeitsunfall aus, solange kein Beweis über den Zusammenhang mit der Arbeit erbracht wurde. Andere hingegen werten Todesfälle grundsätzlich als Arbeitsunfall, sofern nicht erwiesen ist, dass ein außerberuflicher Grund (z.B. eine Vorerkrankung) vorliegt.

Diese Unterschiede in der Beweislast beeinflussen bereits beim Vergleich weniger Länder das Ergebnis erheblich. Bei weltweiten Vergleichen würde die Verzerrung noch größer ausfallen. Zudem wären Unternehmen in Systemen mit einer umfangreichen Anerkennung und Entschädigung von Unfällen benachteiligt, wenn man ihre Ergebnisse mit Unternehmen in Ländern vergleicht, in denen Entschädigungen sehr viel restriktiver gehandhabt werden oder praktisch gar nicht vorgesehen sind.

Statistische Verzerrung

Zu den oben beschriebenen strukturellen Verzerrungen kommt hinzu, dass Vergleiche von Unfallzahlen nur für Unternehmen mit einer großen Anzahl an Beschäftigten statistisch aussagekräftig wären. Statistisch gesehen ist ein Arbeitsunfall in einem kleinen oder mittleren Unternehmen (KMU) ein sehr seltenes Ereignis. Kennzahlen zur Unfallhäufigkeit in KMU weltweit zu vergleichen hat daher keinen Sinn, denn dazu müssten für jedes Unternehmen verlässliche Statistiken über mehrere Jahrzehnte vorliegen. Je nachdem, inwieweit Fremdfirmen, Zeitarbeitskräfte und Unterauftragnehmer in das Reporting einbezogen werden, werden Unternehmen möglicherweise dazu verleitet, besonders gefährliche Tätigkeiten outzusourcen.

Derartige ISO-Kennzahlen, die Einkäufer für die Bewertung von Lieferanten heranziehen würden, ermöglichen keine fairen Vergleiche. Entgegen dem eigentlichen Ziel würden diese Kennzahlen zwangsläufig Unternehmen oder Standorte in denjenigen Ländern benachteiligen, in denen das Arbeitsschutz- und Unfallversicherungssystem am besten ausgebaut ist. Im schlimmsten Fall könnten sie einen Anreiz dafür bieten, Arbeitsunfälle nicht zu melden, da sie, gestützt auf eine internationale Norm, mit den Anforderungen der Sozialversicherungssysteme in Konkurrenz treten.

Die Befürworter dieses Vorhabens zur Erarbeitung einer Technischen Spezifikation sollten daher unbedingt die zahlreichen Verzerrungen und Risiken bedenken.

Christèle Hubert-Putaux
hubert-putaux@eurogip.fr

Raphaël Haeflinger
haeflinger@eurogip.fr