KANBrief 4/18

Durchstichprüfung mit Kanülen (DIN SPEC 91365)

Persönliche Schutzausrüstung (PSA) ist im Umgang mit Kanülen oft unvermeidbar. Bisher fehlen jedoch geeignete Prüfverfahren, um Produkte wie Schutzhandschuhe für den Umgang mit Kanülen zu prüfen und zu bewerten. Ein neues Materialprüfverfahren ergänzt bestehende Durchstichprüfungen um einen praxisnahen Kennwert und wurde kürzlich in einer DIN SPEC (PAS) standardisiert.

Kanülenstichverletzungen stellen eine Gefahr für Beschäftigte in einer Reihe von Industriezweigen dar, etwa im Gesundheitswesen, in der Strafverfolgung und der Abfallentsorgung. Verletzungen mit kontaminierten Kanülen bergen das Risiko blutübertragbarer Infektionen, zu denen auch die Humane Immundefizienz (HIV) sowie Hepatitis B und C zählen. Neben technischen und organisatorischen Maßnahmen kann persönliche Schutzausrüstung dieses Risiko deutlich senken. Harmonisierte Normen unterstützen Hersteller von Schutzhandschuhen, bzw. Schutzkleidung im Allgemeinen, deren Konformität mit der europäischen PSA-Verordnung nachzuweisen. Für die Bewertung des Schutzes von Handschuhen vor mechanischer Gefährdung wird in der Regel die EN 388 (DIN EN 388:2017-01, Schutzhandschuhe gegen mechanische Risiken) ­herangezogen, die sich unter anderem der Beurteilung der Durchstichfestigkeit widmet. Mit der Prüfung mittels eines Prüfdorns von 4,5 mm Durchmesser lässt sich, wie richtig in der Norm angemerkt, allerdings nicht auf den Schutz gegen dünnere, spitze Objekte schließen. Alternative Verfahren zur Beurteilung der Durchstichfestigkeit gegenüber Kanülen wurden z. B. von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) im Jahre 2001 (vgl. Macheleidt, M., Windel, A., Mehlem, P., Entwicklung einer Prüfmethode zur Bestimmung der Stichfestigkeit von Schutzhandschuhen gegenüber medizinischen Kanülen, BAuA (Hrsg.), 2001, S. 54–63)  und der American Society for Tes­ting and Materials (ASTM) 2011 (vgl. ASTM F2878-10, Standard Test Method for Protective Clothing Material Resistance to Hypodermic Needle Puncture) veröffentlicht.

DIN begleitete zuletzt ein interdisziplinäres Expertengremium bei der Standardisierung einer neuartigen Methode für die Durchstichprüfung mit Kanülen. Die Spezifikation DIN SPEC 91365 (DIN SPEC 91365:2018-09, Durchstichprüfung mit Kanülen) dient als Ergänzung zu den oben genannten Prüfungen. Sie setzt auf einen einfachen Versuchsaufbau und ermöglicht es, neben der Durchstichkraft auch die bisher nicht erfasste Perforationskraft zu bestimmen. Erstere ist ein etablierter Kennwert und als Kraftmaximum beim Durchstechen des Prüfmusters definiert. Die Perforationskraft hingegen beschreibt die Kraft zum Zeitpunkt des Austretens der Kanülenspitze aus dem Prüfmuster. Bereits dann – also vor dem Erreichen der maximalen Kraft – kann die mechanische Schutzwirkung der Barriere verloren sein. Zur Messung der Perfora­tionskraft wird eine elektronische Erkennung genutzt: Eine dünne leitfähige Folie unterhalb des Prüfmusters und die Kanüle werden zu einem elektronischen Schalter verbunden und die Kraft beim Schließen des Schalters im Verlauf der Durchstichprüfung detektiert. Die Perforationserkennung liefert damit einen praxisnahen Kennwert, der die erste Exposition des Körpers mit der Kanüle berücksichtigt.

Die Standardisierung des Prüfverfahrens wurde nach den Verfahrensregeln einer DIN SPEC (PAS) erstellt. Die Mitarbeit stand allen interessierten Experten offen, ein hoher Konsensgrad wurde angestrebt und die Widerspruchsfreiheit mit dem deutschen Normenwerk gewährleistet. Fragen der Bewertung und Klassifizierung der Prüfergebnisse blieben bisher offen. Die DIN SPEC (PAS) muss daher als Grundlage verstanden werden, um das Materialprüfverfahren in eine DIN-Norm zu überführen und so die Auswahl von PSA im Umgang mit Kanülen risikospezifisch zu optimieren.

Dr. Nikolaus Mirtschin, Smarterials Technology GmbH
n.mirtschin@smarterials-technology.de 

Dr. Thomas Schochow, VPA Prüf- und Zertifizierungs GmbH
schochow@vpa-gmbh.de

Sicherheit nicht in PAS behandeln!

Die KAN sieht in dem vorgestellten Prüfverfahren großes Potenzial für den Arbeitsschutz. Allerdings muss ein Dokument, das sicherheitsrelevante Inhalte enthält und sich selbst als Ergänzung der Prüfungen nach einer europäisch harmonisierten Norm versteht, nach geltenden Normungsregeln erarbeitet werden. Die KAN-Position zur Regelung von Sicherheits- und Gesundheitsschutzaspekten in Spezifikationen (pdf, nicht barrierefrei) stellt fest, dass DIN SPEC (PAS) grundsätzlich nicht geeignet sind, diese Aspekte zu regeln. Nach dem PAS-Verfahren ist eine Einbindung der Öffentlichkeit nicht zwingend vorgeschrieben, und der Text muss nicht im Konsens erarbeitet werden. Beides sind jedoch Voraussetzungen dafür, dass sich alle interessierten Kreise einbringen können und das Dokument die öffentlichen Interessen ausreichend widerspiegelt.

Die KAN hat im Vorfeld des Projekts die Erarbeitung nach dem PAS-Verfahren abgelehnt und stattdessen das DIN-SPEC-(Vornorm)-Ver­fahren vorgeschlagen, das nach den Normungsregeln der DIN 820 abläuft. Das Projekt lief unter dem Förderprogramm DIN-Connect, das als Ergebnis zwingend eine DIN SPEC (PAS) vorsieht. Leider konnten DIN und die anwesenden Experten nicht überzeugt werden, von diesem Grundsatz abzuweichen. Es ist zu begrüßen, dass nun angestrebt wird, das Prüfverfahren in eine Norm zu überführen. Dabei bietet die KAN an, Experten aus dem Präventionsbereich der Unfallversicherungsträger für dieses Vorhaben zu gewinnen.

Dr. Michael Thierbach, KAN-Geschäftsstelle