KANBrief 3/22

Digitale Methoden in der Ergonomie

Um Produkte und Arbeitsprozesse ergonomisch zu gestalten, können digitale Modelle und Methoden hilfreich sein. Dazu zählen digitale Menschmodelle und die Erfassung, Bewertung und Darstellung von biomechanischen Daten. Zahlreiche Angebote finden sich bereits auf dem Markt, allerdings mangelt es derzeit noch an genormten und untereinander kompatiblen Datenformaten und Strukturen.

Als digitale Menschmodelle werden Softwaresysteme oder -erweiterungen bezeichnet, die Nutzerinnen und Nutzer dazu befähigen, bestimmte anthropometrische, biomechanische und physiologische Eigenschaften des Menschen in virtuellen Entwicklungsumgebungen zu simulieren und zu untersuchen. Der Fokus liegt auf der Analyse von ergonomischen Sachverhalten wie Sichtbedingungen (bspw. bei Baumaschinen auf Grundlage von ISO 5006), Erreichbarkeit und Bedienbarkeit (DIN EN ISO 14738) sowie Kraftaufbringung (DIN 33411, DIN EN 1005-3, ISO 11228) bei der Nutzung von Maschinen. Auch Körperhaltungen bei der Arbeit z. B. in Leitwarten sowie in Büro- und Produktionsbereichen werden betrachtet.

Üblicherweise werden in arbeitswissenschaftlichen digitalen Menschmodellen standardisierte, ergonomische Verfahren (bspw. nach DIN 1005-4, OWAS-Körperhaltungsanalyse1 oder auch Leitmerkmalmethoden2) softwaretechnisch zur Verfügung gestellt. So lassen sich Gesundheitsrisiken abschätzen und daraus prospektive oder korrektive Maßnahmen zur Optimierung eines Arbeitssystems ableiten (z. B. nach DIN EN ISO 6385).

Zur Anwendung digitaler Ergonomiemethoden müssen die relevanten Informationen der Arbeitstätigkeit in die Software integriert werden. Körperhaltung und -bewegung sind dabei von besonders hoher Relevanz. Es besteht mit digitalen Menschmodellen zwar in der Regel die Möglichkeit, unterschiedliche Körpermaße und Arbeitsabläufe manuell zu erstellen, allerdings ist dieser Prozess sehr zeitaufwändig. Eine effizientere Herangehensweise bieten Technologien zur digitalen Bewegungserfassung (Motion Capture).

Erste (mechanische) Erfassungssysteme wurden bereits vor mehreren Jahrzehnten entworfen. Nutzbarkeit und Genauigkeit haben sich jedoch in der letzten Dekade deutlich weiterentwickelt. Heutzutage finden vermehrt inertiale und optische Erfassungstechnologien Einsatz in der Industrie und Forschung. Inertiale Systeme verarbeiten den Datenstrom mehrerer am Körper angebrachter Sensoren (Accelerometer und Gyroskop), die Beschleunigungen und Änderungen der Gelenkwinkel erfassen. Optische Systeme arbeiten mit Kameras, die am Körper angebrachte Marker (Referenzpunkte) erkennen oder den Bewegungsablauf markerlos aus mehreren Einzelbildern (synchronisierte RGB- oder Tiefenbilddaten) berechnen.

Vor- und Nachteile der Technologien

Markerlose Ein-Kamerasysteme (z. B. Microsoft Kinect) sind günstig in der Anschaffung und mobil einsetzbar. In Laborumgebungen mit kalibrierten Kamerasystemen, die Markierungen an Personen zur Bewegungserfassung verwenden (z. B. OptiTrack, Vicon), können wiederum sehr hohe Aufnahmegenauigkeiten erreicht werden. Inertiale Erfassungssysteme (bspw. XSens MVN) bieten einen Kompromiss: Der Einsatz basiert zwar auf Sensorsystemen, welche üblicherweise auch eine Kalibrierung voraussetzen, allerdings ist keine feste Installation im Raum notwendig. Die Genauigkeit inertialer Systeme ist vergleichsweise hoch, nimmt jedoch mit der Aufnahmedauer ab.

Nicht zuletzt geht mit der großen Auswahl technischer Aufnahmemöglichkeiten auch eine Vielzahl strukturell und inhaltlich unterschiedlicher Datenformate einher. Der Inhalt unterscheidet sich bspw. in der Genauigkeit, Anzahl und Art der geometrischen Darstellung der Körpersegmente (Position, absolute Rotation, relative Rotation), im hierarchischen Aufbau des digitalen Skeletts oder der zeitlichen Auflösung. Strukturelle Unterschiede finden sich in der tabellarischen oder hierarchischen Darstellung der Daten, in der Lesbarkeit sowie der lizenzrechtlichen Nutzungsvereinbarung. Manche Formate gelten als de-facto Standard (z. B. Biovision Hierarchie - BVH), sind jedoch nicht universell verwendbar, da sie eben nicht vollständig standardisiert sind. In öffentlich zugänglichen Forschungsergebnissen finden sich daher oftmals eigens definierte Datenformate, meist in tabellarischer Klartext-Form (Comma Separated Values - CSV).

Einheitliche Formate und Schnittstellen erforderlich

Mit der ISO/IEC 19774 wird eine Standardisierung der Datenstruktur für die Darstellung einer menschlichen Figur vorgeschlagen. Sie besteht aus den beiden Teilen “Architektur“ und „Bewegungsdatenanimation“. In Teil 1 sind zudem unterschiedliche Detaillierungsgrade spezifiziert, in Teil 2 die Animation der erfassten Bewegung. Diese Spezifizierung ist an das Forschungsgebiet der Computergrafik angelehnt. Diese findet bislang wenig Umsetzung in der digitalen Ergonomie, nicht zuletzt, da sie die besonderen Charakteristika der Ergonomie bisher nicht ausreichend abbilden kann.

Bereits im Entwicklungsprozess von Produkten oder Arbeitsabläufen kann mit digitalen Methoden die zu erwartende Beanspruchung des Menschen abgeschätzt und die ergonomische Qualität beurteilt werden. Aufwändige Änderungen im späteren Betrieb bzw. des fertigen Produkts können so reduziert oder ganz vermieden werden. Pkw-Hersteller haben bereits spezifische Lösungen erarbeitet, wie sie in einem frühen Entwicklungsstadium die ergonomische Qualität des Innenraums im Hinblick auf Sichtbedingungen und Erreichbarkeit beurteilen können. Auch Arbeitsplätze können bereits digital geplant und beurteilt werden. Es handelt sich aber bislang immer um Insellösungen für spezifische Anwendungen. Für eine breite Nutzung ist es notwendig, dass die einzelnen Verfahren miteinander kombiniert werden können. Eine Standardisierung der Schnittstellen durch definierte Datenformate ist hilfreich und notwendig.

1 Ovako Working Posture Analysing System (OWAS)
2 Methode zur Beurteilung verschiedener Arbeitsvorgänge anhand der vier Leitmerkmale Zeitdauer/Häufigkeit, Lastgewicht, Körperhaltung und Ausführungsbedingungen

Prof. Martin Schmauder, TU Dresden
martin.schmauder@tu.dresden.de

KAN-Projekt zur digitalen Ergonomie

Die KAN plant aktuell eine Studie zur Bestandsaufnahme und Bewertung der vorhandenen digitalen Menschmodelle und Erfassungs- und Bewertungsmethoden. Auf dieser Grundlage soll eine Vorlage für einen technischen Report DIN/TR erstellt werden, in dem Ansätze zur Vereinheitlichung der Schnittstellen und Datenformate beschrieben werden.