KANBrief 1/21
Das am Arbeitsplatz für Tätigkeiten mit Gefahrstoffen geforderte Niveau der Schutzmaßnahmen muss dem Stand der Technik entsprechen. Der Stand der Technik ist nach den Begriffsbestimmungen der Gefahrstoffverordnung der Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen, der die praktische Eignung einer Maßnahme zum Schutz der Gesundheit zur Sicherheit der Beschäftigten gesichert erscheinen lässt. Die Ermittlung des Standes der Technik wird in der Technischen Regeln für Gefahrstoffe (TRGS) 460 „Handlungsempfehlung zur Ermittlung des Standes der Technik“ beschrieben.
Die Gefahrstoffverordnung fordert, dass der Arbeitgeber die Gefährdung der Beschäftigten durch Gefahrstoffe ausschließt. Ist das nicht möglich, muss die Exposition nach dem Stand der Technik so weit wie möglich verringert werden (Minimierungsgebot). Die zweite in der Gefahrstoffverordnung vorgegebene Schutzstrategie beruht auf der Einhaltung der Arbeitsplatzgrenzwerte.
TRGS lösen in Bezug auf die Gefahrstoffverordnung die Vermutungswirkung aus. Gleichzeitig verstehen sie sich, wie auch im Vorwort der jeweiligen TRGS ausgewiesen, als Beschreibung des Stands der Technik. Dieser existiert aber durch die in der Praxis von den fortschrittlichen Betrieben umgesetzte Entwicklung, die sich jedoch nicht immer sofort im Regelwerk widerspiegelt.
Aufgrund dieser dynamischen Weiterentwicklung des Standes der Technik ergibt sich in der Praxis oft das rechtliche Problem, dass viele der betroffenen Betriebe dieser Entwicklung häufig nicht oder nur mit hohem Aufwand folgen können. Zudem gibt es nicht zwangsläufig für alle Themen derartige Technische Regeln.
Insbesondere in Fällen, in denen Beurteilungsmaßstäbe (in einer TRGS genannte Konzentrationswerte zur Auslösung von Maßnahmen oder Begrenzungen der Exposition (z.B. Stand der Technik), TRGS 402, (16) Nr. 2)) (noch) nicht eingehalten werden können, hat sich daher in der Praxis ein weiteres Anforderungsniveau für Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit Gefahrstoffen herausgebildet: die in der TRGS 460 beschriebenen branchenüblichen Betriebs- und Verfahrensweisen. Dabei handelt es sich um in der Praxis einer Branche genutzte und bewährte Kombinationen von Einzelmaßnahmen, die nicht notwendigerweise dem Stand der Technik entsprechen.
Im Gegensatz zum Stand der Technik, der das Niveau der fortschrittlichen Betriebe abbildet, wird hier auf das Niveau abgestellt, das viele Betriebe bei Anwendung der Rechtsvorschriften erreichen. Betriebe mit Defiziten werden hierbei allerdings nicht betrachtet. Beispiele für branchenübliche Betriebs- und Verfahrensweisen finden sich in der TRGS 559 „Quarzhaltiger Staub“ und der aufgehobenen TRGS 504 „Tätigkeiten mit Exposition gegenüber A- und E-Staub“.
Am Beispiel des Abplattens von Bahnschwellen (Entfernen der Metallplatten, auf denen die Schienen ruhen) kann man die Abstufung zwischen dem Stand der Technik und den branchenüblichen Verfahrensweisen gut erkennen (M. Hagmann et al., 2017. PAK-Belastung beim Bahnschwellen-Recycling und bei thermischer Bodensanierung). Das branchenübliche Verfahren ist das manuelle Abplatten im Freien oder in teils eingehausten Bereichen auf dem Boden oder in Staplerhöhe. Nach einer Intervention der Aufsichtsbehörden wegen überschrittener Arbeitsplatzgrenzwerte für polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) wurde eine Arbeitsweise mit Teleskoparmen entwickelt, die aus einer klimatisierten und schutzbelüfteten Kabine heraus bedient werden können. Diese stellt nun den Stand der Technik dar.
Für ein automatisiertes Abplatten durch eine Maschine mangelt es noch an der Realisierung. Daher kann dieses Verfahren noch nicht als Stand der Technik bezeichnet werden, obwohl es sicherlich das am wenigsten belastende Verfahren wäre.
In der europäischen Arbeitsschutzrahmenrichtlinie wird – wie im nationalen Arbeitsschutzgesetz auch – eingefordert, dass der Stand der Technik bei den aus der Gefährdungsbeurteilung abgeleiteten Maßnahmen zu berücksichtigen ist. Im Gegensatz zur Gefahrstoffverordnung wird der Stand der Technik in den gefahrstoffspezifischen europäischen Richtlinien nicht adressiert.
Aufgrund der praktischen Probleme bei der konkreten Umsetzung des Standes der Technik ist es erforderlich, den Stand der Technik praxistauglich anwendbar zu machen. Auch wenn er nicht „das Beste“ darstellen muss, darf der Stand der Technik aber auch nicht durch das „Branchenübliche“ ersetzt werden. Das Niveau liegt in der Regel über dem des Branchenüblichen. Denkbar sind dabei mehrere Möglichkeiten für eine bessere Operationalisierung:
Wie in europäischen Vorschriften auch, muss der Arbeitgeber bei der Festlegung von Maßnahmen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung den Stand der Technik berücksichtigen.
Bei der Konstruktion von Neuanlagen muss der Arbeitgeber den Stand der Technik umsetzen. Ein Bestandsschutz oder ein Stand der Technik für Nachrüstung/Altanlagen ist zu prüfen, um ständige Forderungen nach technischen Anpassungen zu vermeiden. Dabei können andere Anpassungen, z. B. organisatorische Änderungen, aber auch verhältnismäßige bauliche bzw. technische Änderungen, durchaus weiterhin notwendig werden.
Letztendlich wäre auch noch zu definieren, ob der Stand der Technik als „die eine beste Lösung“ in der Umsetzung gefordert wird, oder ob für den Stand der Technik nicht auch eine umfangreichere Praxisbewährung erforderlich ist.
Bis dahin bleibt es in der Arbeitsschutzpraxis im Einzelfall eine Herausforderung, das tatsächlich notwendige Niveau der Schutzmaßnahmen festzulegen, solange keine TRGS bzw. kein Beurteilungsmaßstab als Zielgröße existiert.
Torsten Wolf
torsten.wolf@cityweb.de
Michael Born
michael.born@bad-gmbh.de
Die Autoren leiten den Arbeitskreis zur Erarbeitung der TRGS 460.
HAGMANN, Michael und Ralph HEBISCH und Anja BAUMGÄRTEL und Stefanie BEELTE und Julia SONDERMANN und Susanne WEßELER und Laura WILMS und Torsten WOLF und Tobias WEIß, 2017. PAK-Belastung beim Bahnschwellen-Recycling und bei thermischer Bodensanierung. In: Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie 68(5), S. 261–265. ISSN 0944-2502
BORN, Michael und Anke KAHL und Frank LÜTZENKIRCHEN und Torsten WOLF und Michael AU und Maximilian HANKE-ROOS und Norbert KLUGER und Norbert SCHÖNEWEIS, 2018. Stand der Technik bei der Absackung – ein weiteres Praxisbeispiel zur Anwendung der TRGS 460. In Gefahrstoffe – Reinhaltung der Luft 78(5), S. 203-206. ISSN 0949-8036
BORN, Michael und Romy MARX und Torsten WOLF, 2020. Stand der Technik – quo vadis; Eine Betrachtung aus der Sicht der Gefahrstoffverordnung. In: Sicherheitsingenieur. 51(4), S. 8-11. ISSN 0300-3329