KANBrief 1/21

50 Jahre DIN-Normen­ausschuss Ergonomie

Erfolgversprechend sind die unternehmerischen Handlungen insbesondere dann, wenn auf die Einhaltung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse geachtet wird. Die Ergonomie-Normen enthalten in vielerlei Hinsicht betriebliche Handlungshilfen. Sie vermitteln Grundlagen und Prinzipien der Ergonomie, stellen wichtige Konzepte der Arbeitswissenschaft dar und schaffen ein akzeptiertes Regelwerk zur Arbeits- und Produktgestaltung – und das seit 50 Jahren.

Als wichtiger Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Praxis widmet sich die Ergonomie-Normung auch den Zukunftsfragen der Arbeitsgestaltung und sucht nach Lösungen für gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen, wie z.B. Kriterien und Definitionen für den Umgang mit arbeitsbezogener psychischer Belastung, die alternsgerechte Arbeitsgestaltung und die Gestaltung von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz.

Arbeits- und sozialpolitische Motivation zur Gründung des Fachnormenausschusses Ergonomie

1970 wurde im Deutschen Normenausschuss (DNA) – dem heutigen DIN – auf Anregung der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft und weiterer interessierter Kreise der Fachnormenausschuss Ergonomie gegründet (DIN: Nationale Ergonomie-Normung: in: DIN-Mitteilungen, 54(1975)7, S. 319-322). Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung unterstützte diese Gründung, so wie das heutige Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Ergonomie-Normung weiterhin fördert.

Zielsetzung des neuen Fachnormenausschusses Ergonomie war, dass seine elf konstituierten Arbeitsausschüsse die „gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit“ (§91 Betriebsverfassungsgesetz) nach dem Stand der Wissenschaft und Technik in Normen festlegen (Potthoff, E.: Betriebliches Personalwesen. Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1974). Wissen, das zuvor aus diversen Veröffentlichungen einzelner Fachleute mühsam recherchiert werden musste, wurde nun von einem Fachgremium im Konsens beraten und in Normen zusammengeführt. Diese bilden damit eine zentrale, verlässliche Grundlage für die betriebliche Praxis und für spezifische Produktnormen.

Mit ausschlaggebend für die Gründung waren die in den §§ 90/91 des Betriebsverfassungsgesetzes vorgesehenen Regelungen zu den Mitberatungs- und Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmer bei der „Gestaltung von Arbeitsplatz, Arbeitsablauf und Arbeitsumgebung“. In diesem Zusammenhang erschienen Ergonomie-Normen als geeignete Instrumente, den jeweiligen anerkannten Stand von Wissenschaft und Technik in den dabei relevanten Bereichen fest- und fortzuschreiben, um damit eine Grundlage für eventuell erforderliche sozialpartnerschaftliche Verhandlungslösungen bereitzustellen. Seit der Gründung gehören dem Ausschuss neben Wissenschaftlern und Praktikern demnach auch Fachleute der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften an.

Rolle der Normung in der gegenwärtigen und zukünftigen Arbeitswelt

Die Modelle und Konzepte der Arbeitswissenschaft sind ständig den sich wandelnden Rahmenbedingungen anzupassen oder neu zu entwickeln. Auch heute noch werden die arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse maßgeblich in der natio­nalen und internationalen Ergonomie-Normung definiert und beschrieben – mit dem Ziel, Produkte und Arbeit der Gegenwart humanorientiert zu gestalten und die Wirtschaftlichkeit von Arbeit zu verbessern. Der Normenausschuss Ergonomie (DIN NAErg) behandelt die arbeitswissenschaftlichen Grundlagen der Systemgestaltung und dabei insbesondere die ergonomische Gestaltung von Arbeitsaufgaben und -abläufen, Geräten und Maschinen, Arbeitsumgebungen und persönlicher Schutzausrüstung. Die Vernetzung mit Produktnormungsgremien soll weiter ausgebaut werden, damit zum Beispiel Erkenntnisse zu Körperkräften, Körpermaßen, Körperhaltungen und Belastungen dort entsprechend einfließen können.

Im Fokus der gegenwärtigen Ergonomie-Normung stehen arbeitsrelevante menschliche Eigenschaften. Dazu zählen insbesondere die physische und psychische Leistungsfähigkeit als begrenzende Bedingungen, sowie als Zielvorgaben die Sicherheit, die Gesundheit und das Wohlbefinden der betroffenen Personen. Zielsetzung der Ergonomie-Normung ist, die Leistung, Effektivität und Effizienz, Zugänglichkeit und Gebrauchstauglichkeit der Gestaltungslösungen von Arbeitssystemen (Arbeitsplatz, Arbeitsablauf, die dazu geeigneten Arbeitsmittel sowie die Arbeitsumgebung) zu optimieren. Abbildung 1 zeigt, in welchen Themenbereichen die Fachleute der einzelnen Ausschüsse des DIN NAErg derzeit tätig sind.

Die Gestaltung neuer Arbeitswelten nimmt erheblich an Bedeutung zu. Die Ausschüsse des NAErg erarbeiten Ergonomie-Normen, die diese unternehmerischen Herausforderungen praxisgerecht abdecken. Wesentliche Felder sind:

• Die vernetzte und intelligente Digitalisierung, zum Beispiel in der „Industrie 4.0“ oder Künstlichen Intelligenz, die zahlreiche Wege zur Neugestaltung von Arbeit und damit auch Potenziale für die Ergonomie und den Arbeitsschutz eröffnet. Assistenzsysteme wie Datenbrillen, Tablets oder Smart Watches, technische Unterstützungsmöglichkeiten (Mensch-Roboter-Kollaborationen u.a.) und verstärkte Automatisierung werden die Arbeit der Zukunft prägen.

• Der demografische Wandel rückt die Sicherung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit von jung bis alt in den Vordergrund (Nachwuchskräfte gewinnen sowie Arbeitsfähigkeit einer alternden Belegschaft gewährleisten). Gegenwärtig werden beispielsweise Exoskelette zur Entlastung der körperlichen Arbeit pilotiert. Der neu im DIN NAErg installierte Gemeinschaftsausschuss „Exoskelette“ flankiert die betrieblichen Bestrebungen.

• Damit einhergehend ist eine alternsgerechte und barrierefreie Gestaltung von Produktions-, Büro- und sonstigen Arbeitssystemen erforderlich. Barrierefreie Produkte geben mehr Menschen die Möglichkeit der sozialen Teilhabe und einer verbesserten Lebensqualität. Mithilfe von Ergonomie-Normen können für alle Nutzer unabhängig von Lebensalter oder Behinderung qualitativ hochwertige Produkte und innovative Lösungen entwickelt werden.

Weitere Informationen sind auf der Internetpräsenz von DIN und in der Imagebroschüre des DIN NAErg zusammengestellt.

Prof. Dr.-Ing. habil. Sascha Stowasser
Direktor des ifaa – Institut für angewandte Arbeitswissenschaft e.V.
Vorsitzender des DIN-Normenausschusses Ergonomie (NAErg)
Außerplanmäßiger Professor am Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
s.stowasser@ifaa-mail.de

Dr.-Ing. Ahmet E. Çakir 
Geschäftsführer des ERGONOMIC Institut für Arbeits- und Sozialforschung Forschungsgesellschaft mbH
Obmann des DIN-Gemeinschaftsausschusses Ergonomie für Informationsverarbeitungssysteme.
ahmet.cakir@ergonomic.de

Prof. Dr. Friedhelm Nachreiner 
Vorsitzender der Gesellschaft für Arbeits-, Wirtschafts- und Organisationspsychologische Forschung e. V. (GAWO)
Bis 2018 Obmann des nationalen und des internationalen Arbeitsausschusses zur psychischen Belastung
1991-1997 Vorsitzender des ISO TC 159 Ergonomics
friedhelm.nachreiner@gawo-ev.de

Dr.-Ing. Wolfgang Schultetus 
1989-2005 Direktor des ifaa – Institut für angewandte Arbeitswissenschaft e.V
Ehemaliger Vorsitzender der Normenausschüsse DIN NAErg, CEN TC122 Ergonomics und ISO TC 159 Ergonomics
w.schultetus@gmx.de

 

Abbildung 1: Themenbereiche des Normenausschusses Ergonomie

Ergonomische Grundlagen
▶ Menschengerechte Gestaltung von Arbeitsprozessen

Physiologische und psychische Eigenschaften des Menschen
▶ Anthropometrie (Körpermaße)
▶ Biomechanik (z.B. Kraftbetätigung und Lastenhand­habung)
▶ Psychische Belastung

Accessibility
▶ Barrierefreie Gestaltung
▶ Berücksichtigung der Belange älterer Menschen und Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten

Physikalische Umgebung
▶ Ergonomie der physikalischen Umgebung (Lärm, Beleuchtung, Klima)
▶ Temperatur berührbarer Oberflächen

Informationsverarbeitungssysteme 
▶ Mensch-Maschine-Schnittstelle
▶ Interaktive Systeme
▶ Softwareergonomie
▶ Anzeigen

Industrie 4.0
▶ Arbeits- und Produktgestaltung in der Industrie 4.0