KANBrief 4/16

Für Richter sind Normen und Standards sehr „informativ“

Welche Teile von Normen und normenähnlichen Dokumenten in Gerichtsurteilen herangezogen werden und aus welchen Gründen dies passiert, hat ein Rechtsgutachten untersucht, das im Auftrag der KAN erstellt und im Dezember 2016 veröffentlicht wurde (Volltext des Rechtsgutachtens (pdf, nicht barrierefrei), Projektnehmer RA Prof. Dr. Thomas Wilrich). Es stellte sich unter anderem heraus, dass die in den Regeln und Strukturen der Normungswelt (insbesondere DIN 820-2 „Normungsarbeit – Teil 2: Gestaltung von Dokumenten; CEN-CENELEC-Geschäftsordnung – Teil 3:2011 (ISO/IEC-Direktiven – Teil 2:2011, modifiziert)) genau definierten Begriffe „normativ“ und „informativ“ in der Rechtsprechung eine etwas andere Bedeutung haben.

Das Gutachten analysierte 68 für die Arbeit der KAN aussagekräftige deutschsprachige Gerichtsurteile, in denen Normen oder normenähnliche Dokumente eine wesentliche Rolle spielten. Dabei ging es nicht um deren grundsätzliche rechtliche Bedeutung. Vielmehr war für jedes Urteil zu untersuchen,

  • ob nur die normativen oder auch informative Inhalte herangezogen wurden3
  • ob es für das Gericht eine Rolle spielte, welche Kreise bei der Erarbeitung der Normen beteiligt waren
  • weshalb ein Dokument als geeignet befunden wurde, die herangezogenen Rechtsvorschriften zu erfüllen

In den meisten Urteilen wird die Bedeutung der herangezogenen Normen nicht diskutiert. Häufig ist nur die Nummer der Norm genannt, es wird aber nicht aus ihr zitiert. Teilweise wird die herangezogene Norm noch nicht einmal konkret benannt.

Gelegentlich werden in den untersuchten Urteilen informative Inhalte herangezogen – jedoch nie bewusst mit Diskussion, was „informativ“ bedeutet. In Normen oder normenähnlichen Dokumenten müssen Anforderungen, die zwingend zu erfüllen sind, um die Zielsetzung des Dokuments zu erreichen, vollständig in normativen Textteilen enthalten sein. Andererseits können auch informative Teile wie Anhänge oder nationale Vorworte von großer Bedeutung sein, da sie z.B. darauf hinweisen, inwieweit ein Dokument im Rahmen einer bestimmten Rechtsvorschrift die Konformitätsvermutung auslöst oder in welchem Zusammenhang es mit staatlichen Arbeitsschutzvorschriften steht.

Gerichten geht es hingegen vor allem darum, aus dem Gesetz abgeleitete Ergebnisse durch Aussagen aus Normen oder normenähnlichen Dokumenten zu untermauern, seien diese nun normativ oder informativ. Letztlich kann man sagen, dass aus gerichtlicher Sicht alle Teile einer Norm „informativ“ sind – im Gegensatz zu den „juristisch normativen“ und allein verbindlichen Aussagen aus Gesetzen (Bei Rechtsstreitigkeiten zur Erfüllung eines Vertrages, der Normkonformität einfordert, könnten allerdings nur normative Textteile eine Rolle spielen.).

Etwas öfter wird die Rolle der an der Normsetzung beteiligten Kreise thematisiert – aber nie als tragende Begründung, sondern ebenfalls eher zur Bestätigung des ohnehin schon gefundenen Ergebnisses. So lobte das Oberverwaltungsgericht Lüneburg 1991 die breite fachliche und ausgewogene Zusammensetzung des verantwortlichen Arbeitsausschusses und erwähnt sogar eigens die vertretenen Interessenskreise. Das Bundesverwaltungsgericht gab dagegen 1987 zu bedenken: Den Normenausschüssen „gehören auch Vertreter bestimmter Branchen und Unternehmen an, die deren Interessenstandpunkte einbringen. Die Ergebnisse ihrer Beratungen dürfen deswegen im Streitfall nicht unkritisch als ‚geronnener Sachverstand‘ oder als reine Forschungsergebnisse verstanden werden“.

Aussagen zur Geeignetheit herangezogener Normen gibt es in den Urteilen reichlich. Auch hier zwei Beispiele: Das Bundesverwaltungsgericht betonte in dem Urteil aus 1987 auch: „Die Normausschüsse des DIN sind so zusammengesetzt, dass ihnen der für ihre Aufgabe benötigte Sachverstand zu Gebote steht“. Das Oberlandesgericht Köln sagte 2008: Die „Bestimmungen“ des „Fachverbandes“ Deutscher Verein des Gas- und Wasserfaches (DVGW) „genießen hohes Ansehen und gelten (ähnlich wie DIN-Normen) als eine schriftliche Fixierung der anerkannten Regeln der Bautechnik, so lange nicht das Gegenteil sachverständigerseits festgestellt wird“.

Eine Systematik ist in den Argumenten für die Geeignetheit der herangezogenen Normen nicht zu finden. Sie dienen der Unterstützung des schon anderweitig gefundenen Ergebnisses und somit als zusätzliche Rechtfertigung für das Urteil.

Gegenseitiges Verständnis stärken

Insgesamt zeigt sich, dass die Rechtsprechung die in den Normungsregeln festgelegte Systematik der Zusammensetzung und Arbeit der Ausschüsse und der Bestandteile der Normen nicht immer nachvollzieht. Im Sinne der Anwenderfreundlichkeit und rechtlichen Klarheit wäre es sehr wünschenswert, dass sich Normersteller und Juristen der jeweils unterschiedlichen Auslegungen der Begriffe „informativ“ und „normativ“ gegenseitig stärker bewusst würden.

Prof. Dr. Thomas Wilrich
wilrich@hm.edu

Corrado Mattiuzzo
mattiuzzo@kan.de