Normen sind in unserem Alltag unverzichtbar. Sie sorgen nicht nur dafür, dass der Stecker in die Steckdose passt und Produkte und Dienstleistungen zuverlässig funktionieren. Besonders im Arbeitsschutz spielen Normen eine wichtige Rolle, indem sie Anforderungen an die Sicherheit und Qualität definieren. Seit über 30 Jahren setzt sich die Kommission Arbeitsschutz und Normung (KAN) dafür ein, dass die Normung die Interessen des Arbeitsschutzes berücksichtigt.
Normen sind allgemein anerkannte Regeln der Technik, die Anforderungen an Produkte, Prüfverfahren oder Dienstleistungen festlegen, damit diese für ihren Zweck geeignet sind und sicher verwendet werden können. Der Normungsprozess beginnt in der Regel damit, dass die Industrie, Verbraucher oder andere Interessengruppen einen Bedarf für eine Norm sehen. Prinzipiell kann jeder einen Antrag auf Erarbeitung einer Norm stellen. Besteht ausreichend Interesse an dem Thema, erarbeiten Fachleute im zuständigen Normenausschuss einen Normentwurf. Wichtige Grundprinzipien sind dabei der Konsens, die Transparenz des Verfahrens und die Einbindung aller betroffenen Kreise in die Normerarbeitung – bei sicherheitsrelevanten Themen zählt dazu auch der Arbeitsschutz. Während einer öffentlichen Umfrage können zudem auch Interessierte, die nicht selbst an der Norm mitarbeiten, zum Entwurf Stellung nehmen. Wenn eine Norm verabschiedet und veröffentlicht ist, wird alle fünf Jahre überprüft, ob sie noch aktuell ist oder ob sie überarbeitet oder zurückgezogen werden sollte.
Normen können auf verschiedenen Ebenen erarbeitet werden: national, europäisch oder international. In Deutschland ist das Deutsche Institut für Normung (DIN) die zentrale Normungsorganisation. DIN ist das deutsche Mitglied des europäischen Komitees für Normung (CEN) und der Internationalen Organisation für Normung (ISO). Daneben gibt es für die Elektro- und Informationstechnik eigene Normungsorganisationen (DKE, CENELEC, IEC).
Normen leisten mit ihren Anforderungen an Produkte, Messmethoden und Prüfverfahren einen großen Beitrag zur Vermeidung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Die Normungsthemen betreffen praktische alle Arbeitsbereiche: von Industrieanlagen und Baumaschinen über Werkzeuge, persönliche Schutzausrüstung und die ergonomische Gestaltung von Arbeitsplätzen bis hin zu Dienstleistungen und Managementsystemen.
Die Anwendung von Normen – egal ob nationalen, europäischen oder internationalen Ursprungs – ist grundsätzlich freiwillig. Das unterscheidet sie von Gesetzen und den Vorschriften und Regeln des Staates und der gesetzlichen Unfallversicherung. Dennoch können Normen verbindlich werden, wenn etwa gesetzliche Vorschriften auf sie verweisen oder ihre Anwendung in Verträgen vereinbart wird.
Besonders bedeutsam sind in Europa die harmonisierten Normen. Das sind Normen, die die europäischen Normungsorganisationen CEN und CENELEC im Auftrag der Europäischen Kommission erarbeiten, um europäische Richtlinien oder Verordnungen zu konkretisierten. Im Gegensatz zu Gesetzen kann die Normung sehr viel flexibler auf einzelne Produkte eingehen und technische Neuerungen schneller umsetzen.
Die Norm erarbeiten CEN und CENELEC in Abstimmung mit den Normungsinstituten der einzelnen europäischen Länder. Diese koordinieren national die Meinungen der interessierten Kreise zum Normentwurf und bringen sie auf europäischer Ebene ein. Mit der Listung von Titel und Nummer im Amtsblatt der EU ist die fertige Norm harmonisiert und erhält dadurch eine Art Adelung: die Vermutungswirkung, dass mit Anwendung der Norm automatisch die verbindlichen gesetzlichen Vorgaben erfüllt sind. Die Vermutungswirkung bietet Herstellern den großen Vorteil der Umkehr der Beweislast. Passiert ein Unfall mit ihrem Produkt, das sie nach einer harmonisierten Norm hergestellt haben, müssen andere nachweisen, dass das Produkt fehlerhaft und dadurch unsicher war.
Dass nicht jede Norm von Anfang an optimal ist und alle technischen Fortschritte ausreichend abbildet, zeigt das Beispiel der Erdbaumaschinen. Schlechte Sichtverhältnisse an Baggern oder Radladern haben in der Vergangenheit immer wieder zu schweren Unfällen geführt, weil Maschinenführer Personen im Umfeld der Maschine wegen toter Winkel nicht wahrnehmen konnten. Angesichts der zahlreichen Unfällen wurden die Qualität und Praxistauglichkeit der bis dahin angewandten Norm hinterfragt. Die Europäische Kommission entzog dieser die Vermutungswirkung und forderte eine Verbesserung der Norm. Gemeinsam haben die KAN, Berufsgenossenschaften und die Marktüberwachung daraufhin umfassende Änderungen in die Norm eingebracht und damit die Anforderungen und Kriterien für gute Sicht bei Baumaschinen massiv erhöht. Heute sind auf Baustellen Fahrzeuge im Einsatz, die mit Sichthilfsmitteln wie Kamera-Monitorsystemen oder zusätzlichen Spiegeln ausgestattet sind.
Neu aufkommende oder sich schnell entwickelnde Themengebiete wie Künstliche Intelligenz, Mensch-Roboter-Kollaboration, persönliche Schutzausrüstung mit digitalen Funktionen und neue Technologien zur Eindämmung des Klimawandels erfordern eine vorausschauende Betrachtung durch die Arbeitsschutz-Brille. Allerdings macht der Fachkräftemangel auch vor der Normung nicht halt. In den kommenden Jahren werden Tausende Expertinnen und Experten, die in Normungsgremien mitarbeiten, in den Ruhestand gehen. Gleichzeitig wird es immer schwieriger, neue Fachleute zu gewinnen, weil die entsendenden Stellen, z.B. Unternehmen, immer weniger Kapazitäten haben, um sich in der Normung zu engagieren. Umso wichtiger wird es für die interessierten Kreise, Ressourcen zu bündeln und Prioritäten zu setzen.
Für den Arbeitsschutz übernimmt die Kommission Arbeitsschutz und Normung (KAN) die Aufgabe, Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und zu begleiten. Sie bündelt in Deutschland die Position der am Arbeitsschutz interessierten Kreise und kann als deren gemeinsames Sprachrohr ein größeres Gewicht in die Waagschale werfen, als es die einzelnen Kreise könnten.
Artikel zuerst erschienen in "Arbeitsschutz - aber sicher!" Ausgabe 3, Mai 2025