KANBrief 1/24

Vision Zero mit oder versus Normung

Die Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) setzt sich seit vielen Jahren mit ihrer „Vision Zero“ für gesunde Arbeit ohne Unfälle ein und hat dazu sieben Goldene Regeln als Leitfaden (nicht barrierefrei) formuliert (siehe Kasten). Die Normung bietet großes Potential, diese Regeln zu unterstützen, hat aber in gewissen Bereichen auch ihre Grenzen.

Die Goldene Regel 5 der Vision Zero betrifft ein Kernanliegen der Normung: Diese trägt mit ihren Gestaltungsvorgaben, Sicherheitsanforderungen und Prüfverfahren dazu bei, Gefährdungen zu reduzieren, Systeme effektiv zu organisieren, Maschinen und andere Arbeitsmittel sicher zu gestalten und zuverlässig zu testen. Auch die Goldene Regel 2 können Normen unterstützen, indem sie genormte Prüfverfahren bereitstellen. Diese helfen Arbeitgebern, ihrer Verpflichtung nachzukommen, Gefährdungen am Arbeitsplatz (z.B. Vibrationen) zu ermitteln und zu bewerten, um dann geeignete Schutzmaßnahmen zu treffen.

Grenzen von Vision Zero und Normung

Die Goldene Regel 4 verlangt von Organisationen, Sicherheit und Gesundheit durch gute Organisation zu gewährleisten. Die Norm ISO 45001 behandelt Aspekte wie die Verantwortlichkeit und Vorbildfunktion der obersten Leitung, die Kommunikation von Arbeitsschutzmaßnahmen sowie die Mitbestimmung der Arbeitnehmervertretung. Die Norm kann somit zu sicheren Arbeitsplätzen und zur Verhütung arbeitsbedingter Unfälle und Krankheiten beitragen. Allerdings berührt sie auch Aspekte des betrieblichen Arbeitsschutzes, die eigentlich nicht in den Aufgabenbereich der Normung fallen, sondern national zu regeln sind. Inzwischen gibt es in dem zuständigen Normenausschuss, dem ISO TC 283 Arbeitsschutzmanagement, einige weitere Normen wie ISO 45002 zum Arbeitsschutzmanagement in kleinen und mittleren Unternehmen, ISO 45003 zur psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz oder Normvorhaben zu Arbeitsschutzkennzahlen. Diese und weitere Managementnormen haben die Befürchtungen der deutschen Arbeitsschutzakteure bestätigt, dass die ISO 45001 nur der Auftakt für weitere Normungsaktivitäten im Bereich des betrieblichen Arbeitsschutzes war.

Dienstleistungsnormen werden von der Europäischen Kommission und den Normungsorganisationen nachdrücklich unterstützt. Sie sollen Dienstleistungen leichter vergleichbar machen und den grenzüberschreitenden Handel erleichtern. Sicherheit und Gesundheitsschutz der Dienstleistungserbringer sind selten der Hauptaspekt solcher Normen, werden jedoch als Kriterium für die Qualität einer Dienstleistung angesehen, auch wenn dieser Aspekt anderen Vorschriften und Regelungen unterliegt. Widersprüche können dazu führen, dass Anwender nur die Norm erfüllen und die verbindlichen gesetzlichen Anforderungen außer Acht lassen.

Auch sicherheitsrelevante Qualifikationsanforderungen an Dienstleister werden immer wieder in Normen thematisiert, z. B. im Gleisbau, beim sicheren Umgang mit chemischen und biologischen Stoffen durch Schädlingsbekämpfer oder bei der Arbeit von Tätowierern. All diese Aspekte sind Teil des betrieblichen Arbeitsschutzes, was die Frage aufwirft: Ist dies wirklich eine Aufgabe für die Normung?

Probleme entstehen auch, wenn neue Technologien, deren Auswirkungen noch nicht in allen Aspekten bekannt sind, oder unausgereifte Konzepte genormt werden sollen. Bei der ersten Ausgabe der DIN SPEC (Fachbericht) 67600 „Biologisch wirksame Beleuchtung – Planungsempfehlungen“ bestand etwa das Problem, dass noch keine ausreichend gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den nicht-visuellen Wirkungen des Lichts vorlagen und daher eigentlich keine detaillierten Planungsempfehlungen festgelegt werden konnten. Auch in diesem Fall war zudem der betriebliche Arbeitsschutz betroffen.

Normen tragen am effektivsten zur Vision Zero bei, wenn sie sich auf die Festlegung überprüfbarer Anforderungen an sichere Maschinen, Arbeitsmittel und Arbeitsplätze konzentrieren. In anderen Bereichen sollte der Arbeitsschutz anerkennen, dass die Normung dort ihre Grenzen haben sollte, wo sie keinen Mehrwert bringt, unausgereifte Konzepte aufgreift, übermäßige Management- oder andere Anforderungen stellt oder die Zuständigkeit nationaler oder internationaler Regelsetzer verletzt.

Angela Janowitz
janowitz@kan.de