KANBrief 4/23

ANEC: Die europäische Stimme der Verbraucher in der Normung

ANEC ist eine der Anhang-III-Organisationen nach der Normungsverordnung, deren Beteiligung an der Normung die Europäische Kommission besonders fördert. Generaldirektor Stephen Russell spricht im Interview über Organisation und Arbeitsweise der Verbraucherschutzorganisation und über aktuelle Entwicklungen, die sie bewegen.

Was ist die Aufgabe von ANEC und wie sind Sie organisiert?

ANEC vertritt nationale Verbraucherorganisationen aus Ländern, die in CEN-CENELEC vertreten sind. Mitglieder sind nicht die Organisationen, sondern Personen, die von den jeweiligen nationalen Verbraucherorganisationen im Konsens ernannt werden. Als Mittler zwischen ANEC und der nationalen Verbraucherbewegung tragen sie maßgeblich zur strategischen Vision von ANEC bei, die sich daran orientiert, wo ein Normungsbedarf besteht, um den Verbraucherschutz zu stärken. Zudem sind unsere Mitglieder aufgerufen, gemeinsame ANEC-Positionen zu Normen und Gesetzesvorschlägen an nationale Normungsgremien, Behörden und EU-Parlamentsabgeordnete zu übermitteln. Diese Rückkopplung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden – schließlich ist das nationale Delegationsprinzip in der europäischen und internationalen Normung von entscheidender Bedeutung.

Für 2024 hat sich ANEC zum Ziel gesetzt, als Katalysator in bestimmten Ländern die Beziehung zwischen Verbraucherbewegung, Normungsgremien und Behörden zu stärken. Wenn die Verbraucher in der Normung nicht ausreichend Gehör finden, wirkt sich das sowohl wirtschaftlich als auch sozial negativ aus. Unmittelbar vor der Pandemie machten die Verbraucherausgaben 54 % des Bruttoinlandsprodukts der EU aus. Um die Nachfrage nach den Produkten und Dienstleistungen europäischer Unternehmen – einschließlich KMU – zu stärken, braucht es unserer Ansicht nach selbstbewusste und mündige Verbraucher und Normen, die allen gerecht werden. Leider liegt der Fokus nationaler staatlicher Stellen nach wie vor darauf, die Angebotsseite zu stärken, getreu dem alten Mantra „Normen von der Wirtschaft für die Wirtschaft“.

Wie ist ANEC in den Normungsprozess eingebunden?

Fachlich werden die ANEC-Positionen zu Normentwürfen und anderen Normungsaspekten – etwa dem Normungsauftrag der Europäischen Kommission – von Arbeitsgruppen festgelegt, in denen Fachleute aus mehreren Mitgliedsländern zusammenarbeiten. Die ANEC-Mitglieder haben sieben Schwerpunktbereiche festgelegt, für die es jeweils eine eigene Arbeitsgruppe gibt: Barrierefreiheit, Kindersicherheit, Digitale Gesellschaft, Haushaltsgeräte, Dienstleistungen, Nachhaltigkeit sowie Verkehr und Mobilität. Von der Arbeitsgruppe bestimmte Fachleute übermitteln die Positionen direkt an CEN-CENELEC, ETSI und ISO/IEC (und im Falle von Automobilnormen an UNECE) sowie an die ANEC-Mitglieder mit der Bitte um Weiterverbreitung. So schaffen wir einen gewissen Ausgleich dafür, dass Verbraucherexpertise in den Arbeitsgruppen und Spiegelausschüssen der nationalen Normungsorganisationen in vielen Ländern nur sehr schwach – teils sogar überhaupt nicht – vertreten ist. Eine Ausnahme ist Deutschland, wo es mit dem DIN-Verbraucherrat eine spezielle Anlaufstelle gibt. Die schwache Vertretung war natürlich auch der Grund dafür, dass ANEC als Anhang-III-Organisation nach der Normungsverordnung (EU) 1025/2012 ausgewählt wurde.

Welche Rolle spielt die Normung für den Verbraucherschutz?

Das Neue Konzept mit seinem Zusammenspiel von Regelsetzung und Normung hat nicht nur technische Handelshemmnisse für Unternehmen beseitigt, sondern auch den Schutz und das Wohlergehen von Millionen Verbrauchern verbessert. Zwar liegt es Unternehmen fern, ihre Kunden zu ignorieren, doch sie konzentrieren sich meist auf den Durchschnitts- oder Mainstream-Verbraucher, bei dem die Kosten am geringsten und die Gewinne am höchsten sind. Ohne ANEC würden insbesondere die Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Verbraucher (kleine Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderung) oft übersehen. Einer unserer größten Erfolge war die Überarbeitung der ersten Generation der Normenreihe EN 60335-2 für Haushaltsgeräte, die wir initiiert und dann auch geleitet haben. Das betraf über hundert Normen für eine Vielzahl von Alltagsprodukten. Diese schlossen gefährdete Verbraucher von der Verwendung der Geräte aus, wenn sie nicht beaufsichtigt wurden. Durch diese über 20-jährige Arbeit wurden Millionen von Produkten, die jedes Jahr verkauft werden, sicherer und zugänglicher für Verbraucher aller Altersgruppen und Fähigkeiten.

Welche Bedeutung hat das hochrangige Forum für europäische Normung für Sie?

Die Einrichtung des Forums kam zur rechten Zeit. Der Neue Rechtsrahmen, der Nachfolger des Neuen Konzepts, wird aktuell auf Themen ausgedehnt, die weit entfernt sind von den ursprünglichen Bereichen, auf denen der Binnenmarkt basiert. Die Normung, wie wir sie heute kennen, begann 1901 mit der Normung von Schrauben und Muttern. Nun soll sie auch die Verordnung über künstliche Intelligenz (auf Englisch) und gesetzliche Aspekte, die die Grundrechte des Menschen betreffen, konkretisieren. Aber kann ein Verfahren, das klassischerweise technische Experten zusammenbringt, bei dem Entscheidungen im Konsens getroffen werden und bei dem die Beteiligung so oft unausgewogen ist, geeignet sein, um Grundrechte des Menschen zu behandeln?

Dank des Forums können wir mit unseren Kollegen von BEUC – der größten europäischen Verbraucherorganisation – eine Arbeitsgruppe leiten, die sich mit diesen Fragen befasst und in der Tat die Frage stellen, ob die Normung Grenzen haben sollte. In Deutschland schließt die DIN 820-1 zu den Grundsätzen der Normung mehrere Bereiche explizit aus, darunter weltanschauliche Fragen und Themen, die in den Zuständigkeitsbereich der Sozialpartner fallen. Vielleicht sollte auch die europäische und internationale Normung in ähnlicher Weise eingeschränkt werden.

Wie stehen Sie zur Überarbeitung der EU-Normungsverordnung?

Wie viele andere interessierte Kreise sind wir der Meinung, dass es keine vollständige Überarbeitung, sondern eher eine gezielte Änderung braucht.1 (ANEC wird diese Aspekte in einem Positionspapier zur Überarbeitung der Normungsverordnung weiter erörtern, das in den kommenden Wochen gemeinsam mit BEUC veröffentlicht wird.) Der Rechtsrahmen sollte die Grenzen der Normung festlegen. Gleichzeitig sollte die Kommission befugt sein, je nach Einzelfall zu entscheiden, ob CEN-CENELEC die Erarbeitung einer harmonisierten Norm – die vom Europäischen Gerichtshof immerhin als Teil des Rechts betrachtet wird – der ISO/IEC-Ebene anbieten kann. Die internationale Ebene unterscheidet sich sehr von der europäischen, nicht zuletzt was die Einstellung einiger Länder zur Ethik und die Beteiligungsmöglichkeiten am Normungsprozess betrifft.

Zudem halten wir selbst bei einer letztlich nur begrenzten Ausweitung des Neuen Rechtsrahmens das aktuelle System der HAS-Consultants nicht mehr für ausreichend. Es sollte durch einen „Normenkontrollrat“ ersetzt werden, der nicht nur aus technischen Experten besteht, sondern weitere relevante Fachrichtungen mit einbezieht.

1 ANEC wird diese Aspekte in einem Positionspapier zur Überarbeitung der Normungsverordnung weiter erörtern, das in den kommenden Wochen gemeinsam mit BEUC veröffentlicht wird.