KANBrief 1/10

Vorsicht: Vermutungswirkung!

Anwender von harmonisierten Normen sollten genau darüber im Bilde sein, welche Richtlinienanforderungen in ihnen konkretisiert worden sind und welche nicht (siehe KANBrief 1/2008). Wer sich ausschließlich auf den normativen Teil von harmonisierten Normen verlässt und meint, damit alle Richtlinienanforderungen zu berücksichtigen, bewegt sich auf dünnem Eis. Es ist daher empfehlenswert, genau zu prüfen, wie weit die Vermutungswirkung tatsächlich reicht.

In letzter Konsequenz ist die Vermutungswirkung (siehe Kapitel 4 im „Blue Guide“ und  KANBrief 1/2005 ) nichts anderes, als eine Umkehr der Beweislast. Das bedeutet, dass ein normkonformes Produkt nur dann zum Beispiel von der Marktüberwachung beanstandet werden kann, wenn dem Hersteller der Verstoß gegen Richtlinienanforderungen konkret nachgewiesen wird. Dies ist in Einzelfällen durchaus möglich. Die Vermutungswirkung gilt zudem ausschließlich für diejenigen Richtlinienanforderungen, die in harmonisierten Normen, deren Titel im Amtsblatt der EU veröffentlicht worden sind, auch tatsächlich abgedeckt sind.

Rolle des Anhangs Z

Harmonisierte Normen, die Binnenmarktrichtlinien konkretisieren, müssen informative Anhänge Z (beziehungsweise ZZ bei CENELEC) beinhalten, aus denen eindeutig hervorgeht, welche grundlegenden Anforderungen der einschlägigen Richtlinien darin behandelt werden. Nach Auffassung der Europäischen Kommission sollten dies bei von CEN herausgegebenen Normen vorzugsweise detaillierte Tabellen sein, die wiedergeben, welche Normabschnitte welche Richtlinienanforderungen konkretisieren. Sofern es in einer Norm nicht möglich ist, alle relevanten Anforderungen zu behandeln – sei es durch fehlendes Wissen oder mangelnden Konsens –, so ist in diesen Fällen eindeutig anzugeben, welche grundlegenden Anforderungen abgedeckt sind und welche nicht.

Dementsprechend haben sich die Europäischen Normungsorganisationen auf Aufforderung der Kommission selbst klare Regeln für den gesamten vom New Approach betroffenen Bereich gegeben (CEN: Resolution CEN/BT 2/2003 zu CEN BT N 6739; CENELEC: BT-Entscheidung von März 2004 zu CLC(DG)1010 Rev). Diese Regeln wurden dann von der Europäischen Kommission durch offizielle Briefe an CEN und CENELEC sowie von den Mitgliedstaaten im Ausschuss 98/34/EG, „Normen und technische Vorschriften“, bestätigt (Ausschuss 98/34/EG Dok. 35/2004).

Besonderheiten für Maschinen

Für Normen zur Maschinenrichtlinie gilt darüber hinaus der CEN Guide 414 (CEN Guide 414:2004 „Safety of machinery – Rules for the drafting and presentation of safety standards”). Dieser verlangt in den Abschnitten 5.3 und 6.4.2.2, dass die für den Anwender so wichtige Information, inwieweit die Richtlinienanforderungen in der Norm behandelt worden sind, zusätzlich auch im Anwendungsbereich eindeutig angeführt wird. Viele Normen konnten bisher auf Grund des Zeitdrucks nur formal an die neue Maschinenrichtlinie 2006/42/EG angepasst werden. Unter anderem aus diesem Grunde enthalten einige Normen, deren Titel im Amtsblatt der EU zur neuen Maschinenrichtlinie veröffentlicht wurden, Hinweise im Anhang Z, dass eine erhebliche Zahl der grundlegenden Anforderungen nicht abgedeckt ist. Die Anwendung dieser Normen löst daher auch nur sehr eingeschränkt die Vermutungswirkung aus, sodass hier der Hersteller zusätzlich nachweisen können muss, wie er diese Anforderungen der Richtlinie erfüllt.

Leider werden die Anwender solcher Normen in den seltensten Fällen, wie vom CEN Guide 414 gefordert, auch im Anwendungsbereich auf diese Lücken hingewiesen. Es ist daher zu befürchten, dass vielen dieses Defizit gar nicht bewusst ist. Da Maschinen, die nur solchen Normen entsprechend hergestellt werden, Sicherheitsdefizite aufweisen könnten, muss diese Situation schnellstmöglich geändert werden.

Konsequenzen

Für Anwender sollte vollkommen transparent sein, ob alle einschlägigen grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen von einer Norm tatsächlich abgedeckt werden. Daher sollten die Normungsorganisationen die oben genannten Regeln unbedingt einhalten. Und wenn immer möglich sollten die Normungskomitees dafür sorgen, dass harmonisierte Normen alle Richtlinienanforderungen berücksichtigen, die für das betreffende Produkt relevant sind.

Anwender von Normen sollten sich nicht allein auf eine Veröffentlichung der Titel im Amtsblatt verlassen, sondern zusätzlich immer alle verfügbaren Informationen hinsichtlich der Vollständigkeit der Normen prüfen. Im Übrigen sollte eine Risikobeurteilung im Sinne der jeweils einschlägigen Richtlinien durchgeführt werden – nicht nur weil dies gefordert wird, sondern um unliebsame Überraschungen zu vermeiden.

Corado Mattiuzzo
mattiuzzo@kan.de